Menschenwürde und Suizid - Schließt die Würde das Recht auf Suizid ein?

Eine Anmerkung vorweg:

Diese Arbeit ist eine dialektische Betrachtung des Themas Suizid und Menschenwürde bezüglich der Frage, ob die eigene Menschenwürde einschließt, sich selbst das Leben nehmen zu dürfen. Ich möchte damit ausdrücklich nicht für Suizid werben. Wenn Sie Suizidgedanken haben oder von jemandem wissen der solche hat, suchen Sie sich Hilfe. Es gibt in Deutschland glücklicherweise ausreichend Hilfeeinrichtungen an die Sie sich wenden können. 

 

Wenn Sie Suizidgedanken haben wenden Sie sich an die kostenlose Telefonseelsorge unter der Rufnummer 0800 - 111 0 111, an Ihren Neurologen oder Psychiater. Häufig hilft auch schon ein Gespräch mit Angehörigen.

Bei akuten Suizidabsichten scheuen Sie sich nicht die 112 zu wählen und um Hilfe zu bitten. Ein Krankenwagen wird Sie dann in die nächstgelegene Psychiatrie bringen, wo Sie mit einem Psychiater sprechen und mit dem Sie zusammen überlegen können, welche Maßnahmen sinnvoll sind. 

 

Wenn jemand aus Ihrem Umfeld Suizidgedanken äußert suchen Sie das Gespräch. Vermeiden Sie Ratschläge und "Warum"-Fragen. Hören Sie in erster Linie zu und versuchen Sie herauszufinden, was denjenigen aktuell so sehr belastet, dass ein Suizid als einziger Ausweg in Frage kommt. Auch wenn Sie persönlich wahrscheinlich sehr betroffen davon sein werden, versuchen Sie neutral zu bleiben, denjenigen nicht zu verurteilen und Ihre eigenen Gefühle in den Hintergrund zu stellen. Es geht nicht um Sie! Bieten Sie im Gesprächsverlauf an gemeinsam nach Hilfemöglichkeiten zu suchen. Ist die Situation besonders akut und ein Suizid, den Sie nicht mehr verhindern können, steht unmittelbar bevor, wählen Sie den Notruf 112 und schildern Sie die Dringlichkeit der Situation. Verfallen Sie nicht in Panik und lassen Sie eine suizidale Person auf gar keinen Fall alleine. Die meisten Menschen bringen sich nicht um, wenn jemand dabei ist. 

1. Einleitung

Die Würde eines Menschen kann durch verschiedene Umstände Schaden nehmen oder missachtet werden. Dabei entsteht dieser häufig durch die Einflussnahme Dritter auf eine Person oder eine Personengruppe. In dieser Hausarbeit soll jedoch der Frage nachgegangen werden, ob ein unveräußerliches Recht auf Menschenwürde den Suizid1einschließt und ob aus philosophischer Sicht ein Recht dazu besteht diese Handlung vorzunehmen. Dazu werde ich zunächst die rechtliche Situation des Suizids in Deutschland auf Grundlage des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland und dem Psychisch-Kranken-Gesetz darstellen. Dabei stellt sich vor allem die Diskrepanz zwischen außenstehenden Personen, die zur Hilfe verpflichtet sind, und der Autonomie des Individuums, das über den eigenen Körper frei verfügen darf, als nicht nur theoretisches, sondern speziell in der psychiatrischen Arbeit auch als praktisches Problem heraus. In diesem Sinne muss auch der Begriff der Autonomie beleuchtet werden. Grundlage dafür ist das „Wörterbuch der Würde“, herausgegeben von Rolf Gröschner, Antje Kapust und Oliver W. Lembcke. 

Danach werde ich zwei Positionen aus dem philosophischen Diskurs gegenüberstellen. Gegen den Suizid argumentiert der französische Existenzialist Albert Camus in seinem erstmals 1942 erschienenen Werk „Der Mythos des Sisyphos.“ Darin untersucht er, ob es die Mühen wert ist ein Leben wie dieses auszuhalten und ob die darin enthaltende Sinnhaftigkeit oder ihr Fehlen uns zum Suizid berechtigt oder nicht. Mehr noch, ob im Hinblick auf die menschliche Existenz ein Suizid überhaupt sinnhaft sein kann. Demgegenüber steht das Essay „On Suicide“ des englischen Empiristen David Hume, erstmals im Jahre 1777 posthum durch Adam Smith veröffentlicht. Als gläubiger Christ argumentiert er für den Suizid und geht, noch etwas differenzierter als Camus, auf die Gründe für einen Suizid ein, die einen Menschen zu dieser Entscheidung bringen können.

 

 

2. Rechtliche Situation in Deutschland

Die rechtliche Situation des Suizids wird in Deutschland vor allem durch das Grundgesetz und die Psychisch-Kranken-Gesetze der Länder (PsychKG) geregelt. Im Grundgesetz heißt es in Artikel 2, Absatz 1: „Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt“ (GG 2012, Artikel 2, Abs. 1). In diesem Absatz sind mehrere Begriffe enthalten, die der genaueren Betrachtung bedürfen. Der Artikel spricht jedem das, nur einer einzigen Einschränkung unterliegende, Recht zu, seine Persönlichkeit frei zu entfalten, das heißt seine freiheitlichen autonomen Handlungen gemäß seiner individuellen Wünsche durchzuführen, solange, und dies ist die einzige Einschränkung, dadurch nicht die Grundrechte einer anderen Person verletzt werden. Der Begriff der Würde ist im Grundgesetz also an die Einhaltung dieser Gesetze gebunden und wird damit politisiert. Das Recht auf Würde kann, im Gegensatz zu anderen Grundgesetzen, durch kein anderes Gesetz eingeschränkt werden und gilt somit absolut, wodurch jeglicher Eingriff eine Verletzung darstellt (Dreier 2013). Der Suizid kann somit als Äußerung der individuellen Handlungsfreiheit gewertet werden. Ob und inwiefern dadurch auch die Rechte und speziell die Würde anderer Menschen verletzt werden, wird im nächsten Abschnitt besprochen. 

Ein weiterer Begriff, der zu untersuchen ist, ist jener des „Sittengesetz.“ Das Grundgesetz geht nicht weiter darauf ein, was mit Sittengesetz gemeint ist und wann eine Verletzung des selbigen vorliegt. Der Wortteil „Gesetz“ erhebt die Sittlichkeit zum allgemeinen Anspruch. Sittlichkeit jedoch wird durch den Modus des Sollens, statt des Müssens vom Recht unterschieden und bezieht sich nicht auf eine äußere Instanz (Prüller- Jagenteufel 2013). 

Stellt eine Person für sich oder bedeutende Rechtsgüter anderer eine erhebliche Gefahr dar, ist diese Gefahr abzusehen oder aufgrund von besonderen Umständen sehr wahrscheinlich, berechtigt das PsychKG die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus, der psychiatrischen Abteilung eines Allgemeinkrankenhauses oder einer Hochschulklinik, die dafür Sorge zu tragen haben, dass der Kranke sich dem Aufenthalt dort nicht entziehen kann (PsychKG §10 Abs. 2 u. §11 Abs. 1). In diesem Sinne stellt die Behandlung, die zwar möglichst auf freiwilliger Basis geschehen soll, aber auch gegen den Willen des Betroffenen durchgeführt werden darf, einen Freiheitsentzug dar. Dies bedeutet, dass eine Person, die Suizidgedanken oder konkrete Suizidabsichten hat, eine Gefahr für die eigene körperliche Unversehrtheit darstellt und daher gemäß den genannten Paragraphen in einem abgeschlossenen Teil eines Krankenhauses (im weitesten Sinne), gegen ihren Willen untergebracht werden darf. Das Gesetz zielt darauf ab, den Betroffenen durch gezielte Maßnahmen der psychiatrischen Behandlung ein selbstbestimmtes und eigenverantwortliches Leben zu ermöglichen (PsychKG §3 Abs. 1). Die Unterbringung muss durch einen Amtsrichter angeordnet werden (Psych KG §12), kann aber bei „Gefahr im Verzug“ auch ohne diese erfolgen, wenn die Umstände besonderes unverzügliches Handeln erfordern und daraus ein ärztliches Zeugnis hervorgeht, das innerhalb der folgenden 24 Stunden durch einen Richter eingesehen und die Unterbringung damit genehmigt werden muss (PsychKG §14 Abs. 1). Insofern der Betroffene nach Ablauf der Unterbringung die Behandlung nicht freiwillig fortsetzen möchte, muss er durch die ärztliche Leitung des Krankenhauses entlassen werden, wenn keine weitere richterliche Anordnung vorliegt, welche die Behandlung verlängert (PsychKG §15). Die Freiheit des Betroffenen darf während der Behandlung nur in der Form eingeschränkt werden, welche die Umstände der Erkrankung nötig machen und es ist darauf zu achten, dass auch Freigänge ermöglicht werden (PsychKG §16 Abs. 1). Alle Maßnahmen des Freiheitsentzugs müssen schriftlich festgehalten und begründet werden (PsychKG §16 Abs. 2). Der Betroffene wird über den Grund seiner Unterbringung unterrichtet und darf auch Einsicht in seine Krankenakte erhalten, die ihm allerdings auch verweigert werden kann, wenn die Befürchtung besteht, dass die Behandlung dadurch nachteilig beeinflusst wird (PsychKG §18 Abs. 2). Die eigentliche Behandlung darf auch gegen den Willen des Betroffenen durchgeführt werden, wenn dieser nicht dazu in der Lage ist, die Tragweite seiner Erkrankung zu beurteilen oder er eine bedeutende Gefahr für das eigene Leben oder das Leben anderer darstellt (PsychKG §18 Abs. 3 u. 4). Ist diese Gefahr während des Aufenthaltes als Gefahr im Verzug zu beurteilen, dürfen Betroffene auch fixiert werden (PsychKG §20 Abs. 1).

Nach diesen geltenden rechtlichen Bestimmungen, bedeutet dies, auf den Fall einer Person übertragen, die sich das Leben nehmen möchte, folgendes:

Äußert eine Person Suizidgedanken, Suizidabsichten oder wird während eines Suizidversuchs aufgegriffen, darf sie gegen ihren Willen in einem abgeschlossenen Teil eines Krankenhauses untergebracht werden, da sie eine bedeutende Gefahr für das eigene Leben darstellt. Dort kann mit Einwilligung, aber auch gegen den Willen der Person, eine psychiatrische Behandlung erfolgen. Das Krankenhaus ist ohne richterliche Anordnung nicht berechtigt, Medikamente zu verabreichen, darf den Betroffenen aber bei weiteren suizidalen Handlungen fixieren. Insofern der Betroffene keine weiteren Suizidabsichten äußert und die richterliche Anordnung zur Unterbringung abläuft, muss die Person entlassen werden, falls sie die Behandlung nicht freiwillig fortsetzen möchte. Die Beurteilung, ob weiterhin Suizidabsichten vorliegen, unterliegt dabei der Einschätzung eines Arztes, die natürlich von dem Verhalten und den Aussagen des Betroffenen abhängt. Das heißt, der Betroffene kann auch bewusste Falschaussagen tätigen um eine Entlassung zu provozieren und seine suizidalen Handlungen danach fortsetzen. Die Behandlung soll darauf abzielen die Person von ihren Suizidabsichten zu befreien und zu einem selbstbestimmten und eigenverantwortlichen Leben zu verhelfen.

 

3. Autonomie

Da der Suizid eine Handlung nach den eigenen Fähigkeiten einer Person darstellt, die Unterbringung in einem abgeschlossenen Teil eines Krankenhauses jedoch ein Freiheitsentzug ist und damit gegen die Selbstbestimmung des Menschen, die in Artikel 1 des Grundgesetzes festgelegt ist angreift, muss hier der Begriff der Autonomie untersucht werden.

Autonomie meint ein Prinzip der Selbstgesetzgebung und ebenso das Recht auf physische – und hier noch interessanter – psychische Gesundheit (List 2013). Da Suizidalität in der Regel mit einer Erkrankung der Psyche, meist bei bipolaren Störungen, schizophrenen Krankheitsformen, Persönlichkeitsstörungen oder Depressionen einhergeht, hat eine Person somit ein im Grundgesetz verankertes Recht darauf, wieder zu genesen, obgleich dabei ihre Freiheit, gegen ihren Willen, eingeschränkt werden kann. Dies erscheint zunächst paradox, da hier zwei grundlegende Ansprüche im Widerspruch stehen. Da menschliche Würde ohne Autonomie nicht zu verwirklichen ist (List 2013), stellt sich die Frage, ob eine psychische Erkrankung selbst bereits die Würde einschränkt, da sie die Fähigkeit beeinflusst, Urheber seiner Handlungen zum Zwecke der Selbstbestimmung zu sein (List 2013), oder ob die freiheitsentziehenden Maßnahmen eine Verletzung der Würde darstellen. Für den Gesetzgeber scheint dies klar zu sein, sieht man sich das PsychKG noch einmal genau an. Daraus lässt sich schließen, dass die Erkrankung selbst bereits als Einschränkung der Würde wahrgenommen wird, deren Behandlung nötig ist um die Autonomie einer Person wieder herzustellen. Denn Autonomie als rechtlicher Begriff meint auch die Spontanität des Menschen und ist eine Manifestation von Freiheit, ebenso, wie der Wunsch zu leben (List 2013). Das würde bedeuten, dass man mit einer suizidalen Absicht, die dem Wunsch zu leben entgegenläuft, seine eigene Würde verletzt. Auch, weil sie gemäß dieser Definition kein selbstbestimmtes Handeln darstellt, sondern einem, durch eine psychische Erkrankung ausgelösten Zwang unterliegt. Doch Autonomie bedeutet, speziell im Libertarismus, auch, „(...) sich nach reichlicher Überlegung der determinierenden Einflüsse für oder gegen etwas zu entscheiden“oder auch „anders handeln (zu) können“ (List 2013). Die Frage die dabei entsteht ist, ob jemand, der an einer psychischen Erkrankung leidet, die Möglichkeit hat sich anders zu entscheiden? Der Gesetzgeber scheint dies zu verneinen. Doch wer sein Leben eben aufgrund seiner psychischen Erkrankung, oder aber auch der Lebensumstände, zum Beispiel in Armut und Einsamkeit, oder seiner physischen Erkrankung, die sein Leben zu einer leidvollen Existenz gewandelt haben, beenden möchte, der hat sich nach reichlicher Überlegung und nach Kenntnis aller möglichen Folgen doch dazu entschieden und die Beendigung seines Lebens in Kauf genommen. Sind Suizidgedanken also die Konsequenz einer psychischen Erkrankung, oder ist die psychische Erkrankung die Konsequenz der Lebensumstände und damit letztlich auch der Suizidgedanken? Wer in einer Situation nicht anders handeln kann, der ist moralisch für sein Tun nicht verantwortlich und daher auch nicht autonom (List 2013). Doch jemand mit Suizidabsichten kann sicherlich anders handeln und ist damit auch autonom. Solange unser Tun keinen Schaden für andere bringt, sind wir frei und nach John Stuart Mill schließt dies die Freiheit der Lebensgestaltung mit ein (List 2013).

Schädigt ein Suizid eine andere Person oder deren Würde? Da Trauer über den Verlust eines geliebten Menschen zwar keine psychische Erkrankung ist, aber sicherlich einen Eingriff in die psychische Unversehrtheit einer Person darstellt, kann hier eine Schädigung der Würde attestiert werden. Allerdings ist die Einflussnahme nicht direkt, sondern eine Konsequenz aus der suizidalen Handlung. Die Beantwortung dieser Frage bewegt sich in der Schnittmenge aus der selbstbestimmten autonomen Handlung des Suizidenten und dem Anspruch auf psychische Unversehrtheit seiner Angehörigen und es bleibt offen, was höher zu bewerten ist. 

Die Autonomie einer Person kann durch körperliche Gebrechen im Laufe des Lebens Einschränkungen erfahren und so dazu führen, dass eine Person ihr Leben nicht mehr selbstbestimmt führen kann (List 2013). Dieser leidvolle Zustand kann zu Suizidabsichten führen, die dann aber unter Umständen nicht mehr eigenmächtig ausgeführt werden können. Autonomie ist also nicht absolut, sondern begrenzt (List 2013). Der staatlichen Eingriff in das Recht sich das eigene Leben zu nehmen, ist ein legitimier Eingriff in die Autonomie seiner Bürger im Sinne eines Paternalismus (List 2013). Die Leugnung der Autonomie einer Person mit einer psychischen Erkrankung durch übergeordnete Instanzen, wie sie zuvor beschrieben wurde, stellt dementsprechend aber auch eine entwertende und damit entwürdigende Form des Paternalismus dar (List 2013), vor allem deswegen, weil sich dieses Bild der Erkrankten in der Gesellschaft widerspiegelt und so eine Stigmatisierung erzeugt, welche den Diskurs erschwert. Autonomie ist jedoch kein alleiniger Aspekt zur Wahrung der Würde. „Erst die Anerkennung und Fürsorge einer verantwortungsvollen sozialen Umwelt sichern Würde“ (List 2013). Dies könnte so gedeutet werde, dass es auch in der Pflicht der Gemeinschaft liegt, dafür zu sorgen, dass Menschen in Umständen leben und ihr Leben so gestalten können, dass Suizidabsichten erst gar nicht auftreten. Daraus ergibt sich abermals die Verpflichtung der Gemeinschaft für die psychische Gesundheit ihrer Mitglieder zu sorgen und deren Freiheit immer dann einzuschränken, wenn eine Gefahr für ihr Leben vorliegt. Suizidalität ist losgelöst von psychischen Erkrankungen nur schwer vorstellbar und sind die Absichten das Ergebnis einer vernünftigen Abwägung aller determinierenden Umstände, kann man sicherlich davon sprechen, dass dies dennoch der Fall sein kann.

 

4. Gegen Suizid – Albert Camus

Die Wichtigkeit der Frage nach dem Suizid betont Camus schon in den ersten Zeilen des Abschnitts „Das Absurde und der Selbstmord.“

„Es gibt nur ein wirklich ernstes philosophisches Problem: den Selbstmord. Sich entscheiden, ob das Leben wert ist, gelebt zu werden oder nicht, heißt auf die Grund frage der Philosophie antworten. Alles andere (…) kommt später“ (Camus 2017, S. 15).

 

Für Camus ist damit die Frage, ob es das Leben lohnt gelebt zu werden, auch eine individuelle, die sich jeder Mensch selbst stellen muss. Diese Frage beinhaltet auch die Frage nach dem Sinn des Lebens zu stellen (Camus 2017, S.16). Obwohl ein Suizid zugegebenermaßen auch auf die Angehörigen eines Suizidenten Auswirkungen haben kann, besteht die Schwere der Tat doch in der Beendigung des eigenen Lebens, entgegen allem Bestreben nach körperlicher Unversehrtheit. Die Gründe, die zu einem Suizid führen, können durchaus sozialer Natur sein, aber der eigentliche Akt soll nicht als soziales Phänomen betrachtet werden, da der Entschluss zur Beendigung des eigenen Lebens im Individuum selbst, meist sogar von ihm unbemerkt entsteht (Camus 2017, S.16). Dieser Entschluss gleicht dem Geständnis, mit dem Leben nicht fertig zu werden oder es nicht zu verstehen (Camus 2017, S. 16). So kann es sein, dass man sich als nicht fähig fühlt, den eigenen Ansprüchen gerecht zu werden. Auch kann es sein, dass es die Ansprüche der Gesellschaft sind, denen man glaubt nicht gerecht werden zu können. Damit kann sowohl das direkte soziale Umfeld, als auch die Gesellschaft im Allgemeinen gemeint sein. Aus dieser Spannung, zwischen den Erwartungen und dem eigenen Empfinden diese erfüllen zu können, entwickelt sich Frust. Camus meint aber auch ein Unverständnis für die Sinnhaftigkeit des Lebens, die Unfähigkeit einen Grund und ein Ziel der eigenen Existenz zu erkennen. Ebenfalls bezieht er unheilbare Krankheiten und körperliche Leiden mit in diese Formulierung ein; den Entschluss, sich selbst das Leben zu nehmen, weil die eigene Krankheit nicht mehr zu ertragen ist. Camus sieht in der Existenz, dem Dasein an sich, eine zugrundeliegende Erwartung an das Individuum, das sich aus Gewohnheit weiterhin der Gesten bedient, diesen Erwartungen gerecht zu werden, was schließlich zum Erkennen der Lächerlichkeit der eigenen Handlungen führt, wenn einem klar wird, dass all diese Handlungen im Grunde sinn- und ziellos sind, was gleichfalls bedeutet, dass jegliches damit verbundenes Leid ebenfalls sinnlos ist (Camus 2017, S.16-17). Die Konsequenz daraus ist der Gedanke, das Leben dann auch beenden zu können, weil es letztlich gleichgültig ist, ob es gelebt wird oder nicht. Daraus entsteht das Gefühl der Absurdität, ein für Camus zentraler Begriff. Der Grund, sich das eigene Leben nehmen zu wollen, rührt aus der Tatsache, geglaubt zu haben, das Leben hätte einen Sinn und dann festzustellen, dass eben dies nicht der Fall ist, was zu einem inneren Widerspruch führt (Camus 2017, S. 19). Körper und Geist bilden eigene gleichwertige Urteile und der Körper scheut die Vernichtung so sehr, dass wir uns an das Leben gewöhnen, noch bevor der Geist beginnt Urteile zu bilden (Camus 2017, S. 20). Es liegt also ein tiefes Verlangen darin, den Körper zu erhalten, sei das Elend noch so groß, da die Bindung zum eigenen Körper schon stattgefunden hat, noch bevor wir uns darüber bewusst wurden. Sie ist dem Denken vorangestellt. Umso größer ist der Schritt, das Denken der körperlichen Unversehrtheit durch bewusste Reflexion voran zu stellen und sie zu Gunsten einer durchdachten Abwägung Leben gegen Tod aufzugeben. Dieser Wunsch erklärt den Menschen aus seinem tiefsten Inneren heraus und gibt seine Vorstellungen und Regungen preis (Camus 2017, S. 23). Das Leben, sogar das ganze Universum ist für Camus absurd. Die Sinnhaftigkeit, die wir darin suchen, existiert nicht. Der Mensch ist in seiner eigenen mechanischen Lebensführung gefangen, die ihm eine Bequemlichkeit vermittelt, bis er sich fragt, warum das alles so sein muss und der mechanischen Rhythmik überdrüssig wird und so findet man entweder in die Kette der Ereignisse zurück oder erkennt endlich die fehlende Sinnhaftigkeit, was zur Entscheidung zwischen Selbstmord und Wiederherstellung führt (Camus 2017, S. 25). Doch eben dieser Überdruss, so widerwärtig er auch sei, ist der erste Schritt seinem Leben einen Wert zu geben, indem man eben nicht mehr verzweifelt versucht etwas hineinzuinterpretieren, was gar nicht da ist, sondern sich dem Absurden hinzugeben und es zu akzeptieren (Camus 2017, S.25). „Die einfache 'Sorge' ist aller Dinge Anfang“ (Camus 2017, S.25). 

Das Absurde am Tod liegt darin, dass sich jeder darüber bewusst ist, sterben zu müssen, aber gleichwohl so handelt, als wüsste er darüber nicht bescheid und so konfrontiert uns der Suizid mit einem bewussten, nach eigenen Regeln erlebten Tod, um sich seiner Unausweichlichkeit zu bemächtigen, ihn kontrollierbar zu machen und ihm so die Macht und den Schrecken zu rauben und ihn gleichsam erfahrbar zu machen (Camus 2017, S. 27). Den Tod selber jedoch kann man nicht erfahren und dann danach darüber sinnieren, ob er eine gute Sache ist oder nicht. Er lässt sich nur durch den Tod anderer erfahren (Camus 2017, S. 27). Der Tod und die Sinnhaftigkeit des Lebens sind allein menschliche Kategorien, denn das Universum selbst denkt nicht darüber nach, ob es sinnhaft ist oder eines Tages untergehen wird: es existiert einfach (Camus 2017, S. 29). „Diese Sehnsucht nach Einheit, dieses Verlangen nach Absolutem enthüllt die wesentliche Triebkraft des menschlichen Dramas“ (Camus 2017, S. 29-30). Während die Vernunft so tut, als wäre alles klar, zeigt der Verstand die Absurdität der Welt und so liegt der Mensch „in Fesseln“ und leugnet es zugleich doch (Camus 2017, S. 33). Die vom Menschen angestrebte Klarheit über die Welt und das Leben kann nicht gestillt werden, weil sie nicht existiert und so bildet das Absurde selbst das Band zwischen der Welt und dem Menschen (Camus 2017, S. 33-34). Der Mensch, der sich über all das bewusst geworden ist, steht an dem Punkt der Entscheidung zum Suizid (Camus 2017, S. 40). „Das Absurde entsteht aus diesem Zusammenstoß zwischen dem Ruf des Menschen und dem vernunftlosen Schweigen der Welt“ (Camus 2017, S. 40). Doch das Absurde selbst ist nicht etwas, das der Welt inne wohnt. Es ist die anthropomorphe Beurteilung dessen, mit denen der Mensch aus seinen Erfahrungen seinen Verstand speist und die er mit Vernunft zu beurteilen ersucht. Damit kann es nichts absurdes ausserhalb des Menschen geben und mit seinem Tod endet alle Absurdität (Camus 2017, S. 43). Selbst wenn die Welt eine Sinnhaftigkeit hat, die über sie hinausgeht, ist sie durch den menschlichen Geist nicht erfahrbar und auch für den Zustand der menschlichen Existenz irrelevant, da das Denken den Schranken des Geistes unterworfen ist. (Camus 2017, S. 64). Der Konflikt zwischen Welt und Geist ist begründet in dem Bewusstsein über eben jenen Konflikt (Camus 2017, S. 65). Für Camus kann ein Leben umso besser gelebt werden, wenn es keinen Sinn hat und dieser Umstand erkannt wird, da dies von den Fesseln der ewigen Suche befreit und es so möglich macht, ein Schicksal voll und ganz auf sich zu nehmen und dessen Umständen seinen Platz und Handlungsraum zu finden (Camus 2017, S. 66). Der Suizid würde dem nur aus dem Weg gehen – als Auflehnung gegen ein unabwendbares Schicksal und der Ablehnung des Absurden – während das Leben die ständige Revolte gegen das Schicksal ist, wäre der Suizid die Flucht und Niederlage der Revolte, wodurch der Suizid nicht der Abschluss der Revolte, sondern durch die in ihm liegende Zustimmung des Absurden, eine Aufgabe der Revolte darstellt (Camus 2017, S. 67). „Das Absurde hat nur insoweit einen Sinn, als man sich nicht mit ihm abfindet“ (Camus 2017, S. 44). Das Absurde ist für Camus sogar nötig um Handlungsfreiheit zu erschaffen. Denn je mehr man sein Leben versucht mit Sinn zu füllen, zu strukturieren und sich dadurch eine eigene Wahrheit zu erzeugen, desto mehr schränkt man sich ein (Camus 2017, S. 71). Ob das Leben einen Sinn hat ist eine rein menschliche Beurteilung, doch das Absurde lehrt, uns von diesem Gedanken zu befreien und zu akzeptieren, dass dieser Wert nur konstruiert ist und es nicht darauf ankommt so gut wie möglich, sondern so viel wie möglich zu leben (Camus 2017, S. 73 u. 74). Um sein Leben quantitativ statt qualitativ zu leben, muss man sein Leben, seine Auflehnung und die Freiheit in dieser Existenz Entscheidungen treffen zu können intensiv erleben (Camus 2017, S. 76). Leidenschaft, Freiheit und Auflehnung werden Camus zu den Grundprinzipien den Suizid abzulehnen (Camus 2017, S. 77-78). „Ja, der Mensch ist sein eigener Zweck. Und er ist sein einziger Zweck. Wenn er etwas sein will, dann nur in diesem Leben“ (Camus 2017, S. 104).

 

5. Für Suizid – David Hume

Hume argumentiert in seinem Essay „On Suicide“ an der Frage entlang, ob der Suizid ein Angriff gegen unsere Pflicht gegenüber Gott darstellt. Alle Dinge sind von Gott so eingerichtet, dass sie einer Funktion im Gesamtzusammenhang der Schöpfung nachkommen und ihren Platz in dieser haben. Alle Lebewesen sind mit körperlichen und geistigen Fähigkeiten, sowie einem Urteilsvermögen ausgestattet, anhand dessen sie die Richtung ihres Lebens bestimmen (Hume 2005, S. 1). Somit sind den Fähigkeiten sowohl der Menschen, als auch der Tiere, durch die sie umgebenden Entitäten Grenzen gesetzt (Hume 2005, S. 1). So sind alle Ereignisse in der Welt letztlich auf die Entitäten zurückzuführen, denen Gott die Möglichkeit gegeben hat, Handelnde zu sein und passieren daher auch in seinem Sinne und sind ebenso auch gleich wichtig, seien sie noch so klein und unscheinbar, denn sie erfüllen einen größeren Nutzen im Gesamtzusammenhang (Hume 2005, S. 2). Der Mensch nimmt aufgrund seiner Verstandesfähigkeit eine Sonderstellung gegenüber den Tieren ein. Er ist seiner eigenen Urteilskraft überlassen und befähigt, alle ihm zur Verfügung stehenden Kräfte zu nutzen, sich selbst zu erhalten, seine Existenz zu vereinfachen und glücklich zu sein (Hume 2005, S. 3). Und dennoch unterliegt der Mensch den gleichen Gesetzen von Materie und Bewegung, wie die Tiere auch (Hume 2005, S. 3). Daraus ergibt sich für Hume die Frage, ob der Mensch in diese Naturgesetze unrechtmäßig eingreifen würde, wenn er Suizid beginge (Hume 2005, S. 4). Jedoch unterliegt der Mensch diesen Naturgesetzen und kann sie nicht einfach brechen. Somit ist jede seiner Handlungen nur im Rahmen dieser Gesetze möglich und die Rechtfertigung dafür durch die Beschränkungen der weltlichen Möglichkeiten abgedeckt. Ausserdem ist das Leben eines Menschen nicht mehr wert, als das jedes anderen Lebewesens in Gottes Schöpfung. Und es müsste ein ebenso schwerwiegender Eingriff in den Lauf der Dinge darstellen, sein Leben zu retten, wie ihm zu entsagen (Hume 2005, S. 4). 

„If I turn aside a stone which is falling upon my head, I disturb the course of nature; and I invade the peculiar province of the Almighty, by lengthening out my life beyond the pe riod, which, by the general laws of matter and motion, he has assigned it“ (Hume 2005, S. 5).

 

Wenn die Naturgesetze – und damit Gott – dem Menschen also die Fähigkeit geben, sein Leben vorzeitig zu beenden, dann kann das nur im Sinne Gottes und der Schöpfung sein, denn sonst hätte der Mensch die Fähigkeit dazu gar nicht. Sicherlich haben auch Tiere prinzipiell die Fähigkeit ihr eigenes Leben zu beenden, doch der Mensch ist aufgrund seiner Verstandesfähigkeiten zu einer besonderen Reflexion fähig, die ihm erlaubt, abzuwägen, ob das Leben weiterhin lebenswert ist oder nicht. Denn nur weil ein Mensch sein Leben beendet, das sonst in unsägliches Leid münden würde, bedeutet das nicht, dass er damit seine Existenz oder die Tatsache überhaupt erschaffen worden zu sein verflucht; es sind nur die aktuellen Umstände, was nicht ausschließt, für den Rest des gelebten Lebens dankbar sein zu können (Hume 2005, S.5). Die Möglichkeit, ein Leben in Leid zu beenden sieht Hume als Geschenk, das man nutzen darf, statt darüber zu klagen, dass es keinen Ausweg aus der eigenen Misere gibt (Hume 2005, S. 5). Die Handlungen des Menschen sind die Handlungen Gottes, denn der Mensch ist Gottes Ebenbild (Hume 2005, S. 6). Um das zu verdeutlichen, verwendet Hume ein anschauliches Beispiel. Angenommen, man fällt versehentlich in die Klinge seines eigenen Schwertes, wäre der Tod ebenso durch die Hand Gottes herbeigeführt worden, wie durch das Zerfleischt werden durch einen Löwen, das Hinunterstürzen eines Abhangs oder durch ein Fieber (Hume 2005, S. 6). Niemand würde bezweifeln, dass ein Recht darauf besteht, das eigene Leid zu verringern und dazu ist jedes Mittel so gut wie ein anderes (Hume 2005, S. 6). Der Mensch ist gar nicht mächtig genug, die Ordnung des Universums durch sein Eingreifen ausreichend zu stören und in die eigene Vorbestimmung einzugreifen (Hume 2005, S.6). Hume sieht die Möglichkeit zum Suizid und letztlich dessen Durchführung also als Teil der Vorhersehung Gottes und gleichsam als Teil der Ordnung des Universums. Wer sich also das eigene Leben nimmt, dessen Schicksal war bereits durch Gott vorgesehen und er begeht damit kein Unrecht gegen ihn. „Divine providence is still inviolate, and placed far beyond the reach of human injuries“ (Hume 2005, S. 7). Wenn es gegen Gottes Plan wäre, Suizid zu begehen, da dieser einen Eingriff in das göttliche Schaffen darstellen würde, dann müsste das Gleiche auch für den Bau von Häusern, das Bestellen des Ackers oder die Schifffahrt gelten (Hume 2005, S. 7). Denn all diese Dinge sind nicht in der ursprünglichen Umwelt des Menschen enthalten. Der Mensch muss die Umwelt manipulieren und sie umformen, sich ihrer Ressourcen bemächtigen und daraus Dinge herstellen, die sein eigenes Leben vereinfachen. Eben Gleiches gilt somit für den Suizid. Letzterer verlangt nicht einmal eine Manipulation der Umwelt, sondern wirkt nur auf das Individuum selbst ein. Doch während er vom europäischen Aberglauben verboten wird, legitimiert der gleiche Glaube andere Eingriffe, wie die genannten, in Gottes Schöpfung (Hume 2005, S. 7). Das Paradoxe daran ist doch, dass eben auch der christliche Glaube zwar erlaubt Gebäude aus Holz und Stein zur Huldigung eines Gottes zu errichten, deren Bau einen Eingriff in die Schöpfung Gottes darstellt, aber die gleiche Argumentation benutzt um Handlungen zu verbieten, die ebenso im Plan Gottes vorgesehen sind und trotzdem weniger in seine Schöpfung eingreifen. „They are all of them therefore equally innocent, or equally criminal“ (Hume 2005, S. 7). Suizid ist eine bewusste Entscheidung, basierend auf den kognitiven Fähigkeiten, zu denen Gott den Menschen befähig hat. Seine Existenz verdankt der Mensch ebenso einer langen Kette von bewussten Entscheidungen, die letztlich zu seiner Geburt geführt haben und das legitimiert den Suizid; denn auch dieser kann nicht ohne Gottes Zustimmung passieren (Hume 2005, S. 7).. Wer zum Tode verurteilt ist und sich durch Suizid vor einem schändlichen Tod bewahrt, der beeinflusst die Schöpfung Gottes nicht auf andere Art, als derjenige, der ihn zum Tode verurteilt hat (Hume 2005, S. 10). Hume bezeichnet es sogar als Blasphemie zu glauben, dass jedes Lebewesen in die allmächtige Schöpfung eingreifen könnte; während ein Mensch doch dazu fähig ist die Gesellschaft zu verändern, ist ihm dieses Privileg gegenüber der Schöpfung selbst verwehrt, ebenso wie jedem anderen Geschöpf (Hume 2005, S. 8).

Es gibt ebenso keinen Grund, ein Leben, geplagt von Elend, unnötig zu verlängern, nur weil die Gemeinschaft einen Nutzen daraus ziehen könnte (Hume 2005, S. 9). Ein solches Leben darf auch durch eine Handlung beendet werden, welche der Gesellschaft nicht zum Nachteil gereicht ist (Hume 2005, S. 9). Und wenn man aufgrund von Krankheit und Hilfebedürftigkeit der Gesellschaft sogar eine Last wird, dann muss der Verzicht auf das eigene Leben sogar löblich sein (Hume 2005, S. 9).

Die Angst vor dem Tod ist gewaltig, dass es ein großer Schritt ist, zu dem Punkt zu kommen, an dem ein Mensch sich eher damit begnügen würde zu sterben, als ein leidvolles Leben weiterzuführen. Der Mensch, als vernunftbegabtes Wesen, würde sich nicht aus einer Laune heraus das Leben nehmen. Erreicht sein Leben jedoch den Punkt, an dem es für seine Qualen keinen anderen Ausweg mehr gibt, so soll der Suizid ihm das letzte Mittel sein, sich Kraft seiner eigenen Anstrengungen und gottgegebenen Fähigkeiten davon zu befreien. Denn: „I believe that no man ever threw away life while it was worth keeping“ (Hume 2005, S. 10).

 

6. Fazit

Im Sinne einer freien autonomen Lebensgestaltung schließt die Menschenwürde das Recht ein sein eigenes Leben zu beenden. Doch die geltende Rechtssprechung holt diese Selbstbestimmung in die Sphäre des Politischen, im Sinne eines Paternalismus. Denn dort beinhaltet Würde auch das Recht auf körperliche und geistige Gesundheit. Da Suizidalität mit einer psychischen Erkrankung, zumindest im rechtlichen Sinne, einhergeht, bedeutet dies, dass Menschen mit suizidalen Absichten quasi ein Recht darauf haben, gegen ihren Willen behandelt zu werden, um Gefahr von ihrem eigenen Leben abzuwenden. Doch diese Form der Behandlung schließt Zwangsmaßnahmen ein, die einen Menschen seiner Freiheit berauben und demnach ebenfalls eine Verletzung der Würde darstellen. Ebenso kann eine suizidale Handlung das Leben der Angehörigen nachteilig beeinflussen, was als Verletzung deren Würde gesehen werden kann. Da Autonomie aber bedeutet, die eigene Freiheit nur insoweit ausleben zu dürfen, und dies sagt auch das Grundgesetz, wie die Freiheit und Unversehrtheit anderer nicht eingeschränkt wird, liegt demnach auch eine Verletzung deren Würde vor. Die Frage, die zu klären bleibt ist, ob das Recht sein eigenes Leben im Falle von leidvollen Lebensumständen zu beenden schwerer wiegt, als die Beachtung der Würde anderer. Denn genaugenommen besteht kein Verbot, die Gefühle anderer zu beeinflussen und Trauer ist eine Emotion, keine psychische Erkrankung. Ob jemand nach reichlicher Überlegung zu dem zwanglosen Entschluss kommen kann, sein eigenes Leben selbstständig zu beenden, ist eine Frage, die in dieser Arbeit nicht geklärt werden kann. Sowohl Camus, als auch Hume gehen davon aus, dass dies möglich sei. Denn auch bei massiver psychischer Krankheit würde jemand, nach beider Philosophen Ansicht, sein Leben nicht grundlos wegwerfen, solange es in irgendeiner Form noch lebenswert ist. Suizidalität ist demnach auch eine Form der Bilanzierung der eigenen aktuellen Lebensumstände mit dem Ergebnis, das Leben zu beenden oder es noch weiterführen zu können.

Camus argumentiert dennoch gegen den Suizid. Für ihn entsteht die Verzweiflung im Leben einer Person aus der Erkenntnis, dem eigenen Leben keinen tieferen Sinngehalt zusprechen zu können. Wenn die Erwartungen an die eigene Existenz mit der Sinnlosigkeit der täglichen mechanischen Verrichtung des Alltags konfrontiert werden, führt dies zu einer Enttäuschung, deren Ergebnis ist, das eigene Leben sei die Mühen gelebt zu werden nicht wert. Doch es zu beenden würde dieser Absurdität keine Abhilfe schaffen, sondern sie bestätigen. Zu Leben bedeutet gegen die Absurdität zu rebellieren, sie nicht hinzunehmen und sein Leben nicht qualitativ, sondern quantitativ zu leben. Erst aus dem Absurden ergibt sich für Camus überhaupt erst die Freiheit zu handeln. Das eigene Leben verzweifelt mit Sinn zu füllen zeigt nur die anthropozentrische Beurteilung einer Existenz, die global gesehen keinen Unterschied macht. Bei alledem scheint Camus jedoch auszulassen, dass das Leben nicht nur von Sinnsuche geprägt ist, sondern durch Leid auch so qualvoll werden kann, dass es sich schlicht nicht mehr aushalten lässt, völlig losgelöst vom tieferen Sinn. Nach Camus müsste man demnach auch ein durch Krankheit und Gebrechen geplagtes Leben unbedingt weiter führen um ein metaphysisches Paradigma zu erfüllen. 

Hume zeigt, dass eben dieses Recht besteht. Er ist sich mit Camus darüber einig, dass ein individuelles Leben im göttlichen Gesamtzusammenhang keine gesonderte Stellung hat. Und wenn Gott nicht gewollt hätte, dass der Mensch sich selbst das Leben nehmen kann, dann hätte er ihm die Möglichkeit dazu nicht gegeben. Hume ist davon überzeugt, dass ein Mensch sein Leben nur nach reichlicher Überlegung und Abschätzung der Konsequenzen beenden würde. Ein Leben in Krankheit und Elend ist für ihn nicht lebenswert und er gesteht das Recht zu, hält es sogar für legitim, es zu beenden, womit auch der Gesellschaft weiteres Leid, das durch die ständig benötigte Fürsorge entsteht, erspart bleibt. Denn in Gottes Vorsehung ist der Suizid nur Teil eines größeren Gesamtplans. Und auch nach dem Tod erfüllt man in diesem weiterhin seinen Zweck. Der Mensch hat Kraft seiner Vernunft und seines Verstandes die Möglichkeit, sein eigenes Handeln abzuschätzen und seine Umwelt zu beeinflussen und zu nutzen. Da er in diese eingreift um sein Leben zu vereinfachen, ist der Suizid ein ebenfalls legitimer Eingriff in die Vorsehung im Rahmen der Möglichkeiten, die der Mensch hat, seine Lebensumstände nach seinen Wünschen zu beeinflussen. Hier kann man eine Wahrung der eigenen Würde herauslesen. Der Mensch ist nicht dazu verdammt, eine Existenz zu ertragen, die nicht mehr zu ertragen ist. Er kann im Rahmen seiner Autonomie über sein Leben verfügen und es beenden, wenn er nach gewissenhafter Überlegung dazu gekommen ist, es sei das Beste für ihn. Camus macht dieses Zugeständnis nicht. 

Würde beinhaltet das Recht auf Autonomie und das Recht auf Unversehrtheit. Mit Blick auf den Suizid, scheint sich beides nicht in Einklang bringen zu lassen. Aber wer nach reichlicher Überlegung zu dem Entschluss gekommen ist, sein Leben beenden zu wollen, der wird dies auch, insofern er körperlich dazu noch in der Lage ist, umsetzen und zwar in einer Weise, die nicht zu einer zwangsweisen psychiatrischen Behandlung führt. Wer diese in Anspruch nimmt oder dazu gebracht wird, der erhält eine weitere Möglichkeit über seine Entscheidung zu reflektieren. Solange man körperlich in der Lage ist, kann niemand einen vom Suizid abhalten.

 

Literaturverzeichnis

Camus, Albert (2017). Der Mythos des Sisyphos (22. Auflage). Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag

 

Dreier, Horst (2013). Grund- und Menschenrechte, in: Gröschner, Ralf/ Kapust, Antje/ Lembecke, Oliver W. (Hg.), Wörterbuch der Würde (1. Auflage), S. 333-334. München: Wilhelm Fink UTB

 

Hume, David (2005). On Suicide (15. Auflage). London: Penguin Books

 

Kolb, Ute (Redaktion) (2013). Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland(Stand: Juli 2012). Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung

 

List, Elisabeth (2013). Autonomie, in: Gröschner, Ralf/ Kapust, Antje/ Lembecke, Oliver W. (Hg.), Wörterbuch der Würde (1. Auflage), S. 130. München: Wilhelm Fink UTB

 

Prüller-Jagenteufel, Gunter (2013). Sittlichkeit, in: Gröschner, Ralf/ Kapust, Antje/ Lembecke, Oliver W. (Hg.), Wörterbuch der Würde (1. Auflage), S. 192. Mün- chen: Wilhelm Fink UTB

 

PsychKG NRW – Psychiatrisches Krankengesetz. Gesetz über Hilfen und Schutzmaß- nahmen bei psychischen Krankheiten(1999, geändert 2005)

 

Fußnoten

1 Eine Unterscheidung zwischen den Begriffen Suizid, Selbstmord, Selbsttötung und Freitod wird hier aufgrund des deutlichen Umfangs dieser Differenzierung nicht vorgenommen. Daher wird im weiteren Verlauf dieser Arbeit stets der in wissenschaftlicher und medizinischer Sprache verwendete Ausdruck des „Suizid“ benutzt. In wörtlichen Zitaten wird die Wortwahl des Autors beibehalten.