Die Unverallgemeinerbarkeit des Verzeihens

(ursprünglich am 25.09.2018 als Bachelorarbeit vorgelegt)

Einleitung

Es ist das alltägliche Verzeihen das wir entgegenbringen und das uns entgegengebracht wird. Es lehrt uns von Kind an wie wichtig es ist unser Handeln und das Handeln unserer Nächsten zu reflektieren und einzuordnen. Schon früh müssen wir – manchmal mit aller Härte – feststellen, wie sehr unser Tun einen geliebten Menschen verletzt hat. Oder wie sehr wir von einem geliebten Menschen verletzt wurden. Im Laufe unseres Lebens werden wir dann fast täglich mit Situationen konfrontiert, in denen wir uns fragen, wie mit einer geschehenen Verletzung weiter umzugehen ist. Werfen wir dem Schädigenden sein Handeln vor und erlauben uns nicht ihn in einem anderen Licht zu sehen, als jenes, welche die Tat auf ihn wirft? Oder verzeihen wir? Aber was heißt verzeihen eigentlich? Ist verzeihen „vergeben und vergessen“, wie wir es im gemeinen Sprachgebrauch gerne ausdrücken? Wir verzeihen so oft; manchmal leichtfertig, manchmal schwer. Manchmal stellen wir fest, dass wir zu hastig verziehen haben und der Schädigende nichts daraus gelernt hat. Manchmal sind wir eisern und können oder wollen eine Tat nicht verzeihen, weil sie uns so schwer verletzt hat. Können wir dann die Beziehung, die wir zum Schädigenden hatten oder noch haben, so weiterführen wie bisher? 

Theologie und Philosophie beschäftigen sich seit jeher mit dem Verzeihen. Wenn wir unsere Existenz durch unser Handeln selbst gestalten, dann kann es aber nicht nur Gott sein, der „vergeben“ kann. Denn wenn wir in einem Konflikt stecken müssen wir unsere Probleme selbst lösen. Kein Gott wird uns zu Hilfe eilen und diesen Konflikt für uns lösen. Diese bittere Erkenntnis fordert uns dazu auf uns um das Verzeihen Gedanken zu machen. Wann wollen wir wem unter welchen Umständen verzeihen? Von einer philosophischen Theorie des Verzeihens fordern wir, dass sie allgemeingültig ist. Sie soll in jeder gegebene Situation unter allen Umständen angewandt werden können. So wie es in der Philosophie des Geistes eine allumfassende Theorie als Antwort auf das Leib-Seele-Problem geben soll, wollen wir auch in der Moralphilosophie sagen können, was Verzeihen ist und eine Antwort auf die Frage liefern, wann und wie wir es am sinnvollsten einsetzen können. Aber ist das überhaupt möglich? Können wir nach tausenden von Jahren Philosophiegeschichte auf eine befriedigende Antwort kommen, wenn wir uns die Frage stellen, ob das Verzeihen verallgemeinerbar ist? 

Mit dieser Frage möchte ich mich im Zuge dieser Arbeit beschäftigen. Ich möchte Schritt für Schritt versuchen zu elaborieren, ob eine solche verallgemeinerte Theorie des Verzeihens möglich ist und welche Probleme uns bei der Erforschung dieser Frage begegnen. Dazu habe ich diese Arbeit in zwei Teile aufgeteilt, die uns konsekutiv zu einer Idee davon führen sollen, welche Probleme uns eine allgemeine Theorie des Verzeihens aufgibt. Dazu werde ich mich im ersten Teil mit einigen grundlegenden Fragen beschäftigen, die zunächst trivial wirken. Im Laufe der Arbeit wird sich aber dann herausstellen, wie wichtig es sein kann auf solche Details einzugehen und welche Auswirkungen die daraus gewonnen Erkenntnisse haben können, wenn man deren Implikationen weiter spinnt. 

Zunächst also müssen wir klären, was Verzeihen überhaupt ist. Ist es eine Sache, eine Handlung, eine Möglichkeit? Und welche Voraussetzungen müssen erfüllt sein, damit Verzeihen überhaupt stattfinden kann? Sicherlich ist auf Anhieb klar, dass eine Person einer anderen verzeiht. Aber das allein reicht nicht. Wir müssen untersuchen, welche Prämissen zusammenkommen müssen, damit wir sagen können: hier ist Verzeihen eine sinnvolle Handlung. Dazu werde ich mich hauptsächlich auf die Arbeiten von Klaus-Michael Kodalle und Jeffrie Murphy stützen. Deren Werke bieten einen klaren Einblick in den Gegenstand des Verzeihens und helfen uns diese grundlegende Frage zu beantworten.

Wenn das geklärt ist müssen wir untersuchen wem wir verzeihen. Verzeihen wir der Tat oder dem Täter? Und welche Konsequenzen hat die Erkenntnis, die wir daraus erzielen? Hier helfen mir Lucy Allais und abermals Klaus-Michael Kodalle. 

Wenn wir dann also wissen, was Verzeihen ist und wem wir verzeihen, muss uns klar werden ob Verzeihen eine sinnvolle Alternative hat. Ob es andere Formen der zwischenmenschlichen Gütezuwendung gibt, die dem Verzeihen gleichen oder insofern ähneln, dass wir das Verzeihen nicht mehr brauchen. Es gibt allerlei Begriffe, die wir im alltäglichen Sprachgebrauch synonym zum Verzeihen benutzen, deren Inhalt jedoch ein völlig anderer ist. 

Nachdem uns klar ist, welche Sonderstellung das Verzeihen in unserem Umgang miteinander hat, fragen wir uns, warum wir überhaupt verzeihen sollen. Welchen Zweck dient das Verzeihen? Was wäre, wenn es das Verzeihen nicht gäbe und wir eine andere Möglichkeit finden müssten unsere Spannungen aufzulösen? Dient das Verzeihen nur dem Geschädigten oder auch dem Schädigenden? Oder ist die Bedeutung des Verzeihens gänzlich von der Subjekthaftigkeit der Parteien zu lösen und bewegt sich in einer metaphysischen Sphäre? Die hier gewonnen Erkenntnisse bilden sich aus einer Synthese aus den Arbeiten von Lucy Allais, Klaus-Michael Kodalle und Jeffrie Murphy. Wenn deren Ansichten zusammengebracht werden, lässt sich daraus eine solide Basis konstruieren, auf der wir die Notwendigkeit des Verzeihens aufbauen können. Aber heißt Notwendigkeit dann, dass wir zum Verzeihen verpflichtet sind? Wenn das Verzeihen obligatorisch wäre und wir es von unserem Gegenüber fordern könnten, würde es dann noch seinen Zweck erfüllen? 

Aus den bis dahin gewonnen Ergebnissen wird sich zeigen, dass es einige Faktoren gibt, die das Verzeihen beeinflussen. Diese Faktoren zeigen auf, dass sich die Beurteilung einer Situation, in der Verzeihen eine Handlungsmöglichkeit darstellt, nicht auf andere Situationen übertragen lässt. Als Beispiel sei hier die Beziehung genannt, welche wir zum Schädigenden haben. Diese ist zwischen verschiedenen Konstellationen von Menschen stets unterschiedlich und unser Verhältnis zueinander beeinflusst, ob, wann und wie wir verzeihen.

Die aus dem ersten Teil dieser Arbeit gewonnenen Erkenntnisse werde ich dann im zweiten Teil nutzen um verschiedene Situationen zu analysieren, in denen verziehen werden kann. Dabei wird sich noch deutlicher herausstellen, dass das Verzeihen in einem Moment nichts mit dem Verzeihen in einem anderen zu tun hat und somit wird das Problem der Unverallgemeinerbarkeit des Verzeihens hoffentlich klar werden. 

Zunächst sind da die alltäglichen Vertrauensbrüche. Dinge, die uns relativ häufig passieren und die auf den ersten Blick als leicht verzeihlich deklariert werden können; bei denen man dazu neigt dem Geschädigten einen Vorwurf zu machen, wenn er so etwas nicht verzeihen kann. Dann gibt es Dinge, die viele Menschen vielleicht schon erlebt haben, deren Grad an Vertrauensbruch die Alltäglichkeit aber bereits überschreitet. Als Beispiel habe ich mich hier für das Fremdgehen entschieden, weil dieser Akt eine spezielle Implikation für das Beziehungsgefüge hat. Danach verlassen wir die Sphäre des Ich-und-Du und betrachten den Fall des David Parker Ray, einem amerikanischen Serienmörder. Was diesen Fall für diese Arbeit so interessant macht, ist die große Zahl seiner Opfer und die unendlichen Gräuel, die er ihnen angetan hat. Das wird der Punkt sein an dem wir uns Gedanken darüber machen müssen, ob gesetzestreue Bürger durch Taten wie diese zu sekundären Opfern werden, da der Täter einen wichtigen moralischen Grundsatz gebrochen hat. Dieses Beispiel führt uns letztlich zum Holocaust. Da gibt es nicht mehr nur einen Täter, sondern derer tausende und ihre zahlreichen Mittäter. Durch ihre systematische Durchführung überschreiten die Gräuel der Nazis alles, was wir bis zu diesem Punkt betrachtet haben. Anhand dieser Beispiele soll klar werden, wie wenig allgemein Maßstäbe sein können

 

Teil I

Verzeihung betrachte ich als die geheime Mitte der Ethik

- Klaus-Michael Kodalle 2006, S. 31

 

Im ersten Teil dieser Arbeit widme ich mich zunächst einigen grundlegenden Fragen über das Verzeihen, damit die konkrete Analyse einiger Beispiele im zweiten Teil eine Basis hat. Dabei konzentriere ich mich auf Aspekte des Verzeihens, die der eigentlichen Fragestellung zu Gute kommen. Wir müssen zunächst klären, was Verzeihen als Akt genau ist und unter welchen Umständen Verzeihen eine Handlungsoption darstellt. Danach soll klar werden, wem wir eigentlich verzeihen und ob es Alternativen zum Verzeihen gibt. In diesem Zuge grenze ich Verzeihen von anderen, in diesem Kontext, häufig auftauchenden Begriffen ab. Daraufhin stellt sich die Frage, warum wir überhaupt verzeihen sollen und ob die zuvor genannten Alternativen nicht ausreichend sind. Daraus ergibt sich die Frage, ob Verzeihen obligatorisch ist. Wenn es keine sinnvolle Alternative gibt, würde das bedeuten, dass wir keine andere Wahl haben als zu verzeihen. Dann werde ich darstellen, welche Faktoren das Verzeihen begünstigen. Wann fällt es uns leichter, wann schwerer zu verzeihen und wovon ist diese Bewertung abhängig?

 

Was ist Verzeihen?

Was ist Verzeihen und was unterscheidet es von anderen Formen der zwischenmenschlichen Gütezuwendung? Verzeihen kann nur dann stattfinden, wenn mindestens zwei Subjekte miteinander interagieren. Wer alleine ist kann niemandem verzeihen. Das Verhältnis der beiden Subjekte enthält die Erwartung aneinander, dass jeder die Würde des anderen achtet und jeder davon absieht, dem anderen Schaden zuzufügen. Wenn sich beide Subjekte stets auf Augenhöhe begegnen und es niemals zu Vertrauensbrüchen und Schädigungen kommt, dann muss auch niemals verziehen werden. Nimmt sich jedoch eine Partei heraus entgegen des Vertrauens der anderen zu handeln, dann missachtet sie deren Würde und es kommt zu einem Schaden. Konkret: „Ich habe darauf vertraut, dass wir unserer beider Würde achten, aber du hast meine Würde durch eine Tat verletzt und dich damit über mich gestellt, weil du dir herausgenommen hast meine Interessen zu missachten.“ 

Verzeihen als Akt ist immer dann eine Option, wenn die Beziehung zweier Menschen durch Schuld belastet ist und dadurch asymmetrisch wird (Kodalle 2006, S. 8). Durch die Tat sagt der Schädigende zum Geschädigten, dass er wichtiger ist als der andere und ihn für seine eigenen Interessen missbrauchen kann (Murphy 1988, S. 25). Ich sage hier bewusst Optionund nicht Notwendigkeit, weil ich mich der Frage, ob Verzeihen eine Pflicht darstellt, etwas später widmen werde. Verzeihen dient dem Versuch, die reaktionären Gefühle und Ressentiments zu überwinden, die als Reaktion auf eine moralisch verwerfliche Tat entstehen, was bedeutet, dass man nur vergeben kann, wenn es etwas zu grollen gibt (Murphy 1988, S. 20). Damit hat Verzeihen zwei Ebenen. Die eine Ebene betrifft den Schädigenden und seinen Stand beim Geschädigten. Die andere Ebene betrifft die Gefühle des Geschädigten gegenüber dem Schädigenden. Verzeihen dient dazu eine Form von moralischer Gleichheit zwischen den Parteien wieder herzustellen, was aber nicht bedeutet, dass damit auch das Vertrauen wieder vollständig hergestellt werden kann (Murphy 1988, S. 22). Reaktionäre Gefühle, Ressentiments und das Verzeihen erfordern, dass man durch das Handeln eines anderen geschädigt wurde (Murphy 1988, S, 21). Der Schaden ist also die Grundlage für Ressentiments und reaktionäre Gefühle, auf die mit Verzeihung reagiert wird. 

Verzeihen geschieht also auf einer Grundlage. Das heißt die Subjekte der Beziehung, waren einst auf gleicher Stufe, aber durch die Schuld des einen, stellt dieser sich zunächst über den Geschädigten, indem er seine Würde missachtet und ist daraufhin auf das Verzeihen des Geschädigten angewiesen, was ihn nun auf eine niedrigere Stufe als den Geschädigten stellt. Der Schädigende ist auf den aktiven Akt der Verzeihung angewiesen, um die Symmetrie zwischen den Parteien wieder herzustellen. Gleichzeitig nimmt die Autonomie beider Parteien Schaden. Die des Geschädigten durch die Tat und die des Schädigenden durch das Angewiesen-sein auf die Verzeihung des Geschädigten, wodurch ein Gipfel der Asymmetrie erreicht wird (Kodalle 2006, S. 31-32). Dabei stellt sich die Frage, ob sich Verzeihen nur auf die private Sphäre des Ich-und-Du beschränkt, oder aber auch darüber hinaus gehen kann, wenn geschichtliches Verzeihen, zum Beispiel im Zuge des Holocaust, oder Verzeihen auf Institutionen bezogen ist (Kodalle 2006, S. 6). Murphy sagt, dass man Hitler nicht für die Verbrechen verzeihen könne, die er den Juden angetan hat, wenn man selbst nicht davon betroffen ist; man könne nur Dingen grollen, die einem persönlich angetan wurden (Murphy 1988, S. 21). Als gesetzestreuer Bürger habe ich dennoch das Recht, die Übertretung allgemeiner moralischer Gesetze zu verurteilen (Murphy 1988, S. 16). Wäre man somit immer sekundär Geschädigter jeglicher Überschreitung moralischer Gesetze? Bedeutet dies, dass jenes Verzeihen im Ich-und-Du ein anderes ist, als im Ich-und-Jene, sowie im Wir-und-Du oder Wir-und-Jene? 

Wir stellen also fest: Verzeihen dient dazu, die durch eine Tat geschädigte und asymmetrisch gewordene Beziehung zweier Parteien im Zuge der Beziehungspflege wieder herzustellen. Beziehungen wie das Eltern-Kind-Verhältnis sind zwar grundsätzlich asymmetrisch (Kodalle 2006, S. 8), aber wir gehen hier von Beziehungen zwischen Parteien aus, die grundsätzlich gleichsam vernunftbegabt sind. Des Weiteren dient auch das elterliche Verzeihen dem Kind gegenüber dazu, die Beziehung aufrecht zu erhalten. Es stellt sich dabei die Frage, ob die Taten eines Kindes eine Vorwerfbarkeit enthalten. Kodalle sagt, dass die Eltern-Kind-Beziehung von einem grundsätzlichen Geist der Verzeihung beseelt sei, welche paternalistische Strafen zum Schutz und Erziehung des Kindes mit einschließt (Kodalle 2006, S. 8, 25). Hier widerspreche ich, denn Kindern ist es, anders als Erwachsenen, noch viel weniger möglich die Folgen ihres Handelns langfristig abzuschätzen. Ohne mich zu weit in eine Diskussion um die Entwicklungspsychologie von Kindern zu vertiefen, möchte ich dennoch festhalten, dass Kinder wohl selten die Absicht haben, den Eltern gezielt zu schaden. Sie müssen die soziale Interaktion erst noch auf einer völlig anderen Ebene erlernen und damit geht einher, die Folgen ihres Handelns abzusehen und tragen zu können.

Verzeihen wir der Tat oder dem Täter?

Da wir nun gesehen haben, was Verzeihen intersubjektiv bedeutet, müssen wir uns fragen, was oder wem verziehen wird. Verzeihen ist etwas, dass von einer Person auf eine andere gerichtet ist. Verzeihen wir dabei dem Täter oder der Tat? 

Das Ereignis der Tat ist das, was in uns eine Verletzung auslöst. Aber die Tat kann nicht einfach so passieren. Jemand muss sie ausführen. Die Verletzung ist die Konsequenz der Handlung einer Person und da Menschen sich durch ihr Handeln als Person konstituieren (Allais 2008, S. 61), ist es das Handeln der Person, welche die Verletzung in uns ausgelöst hat. Die Verletzung ergibt sich aus dem zugefügten Schaden und der Schuldfähigkeit des Schädigenden, wobei es dabei nicht nur um Verlust oder Leid geht, sondern auch um die Respektlosigkeit dem Geschädigten gegenüber (Allais 2008, S. 33). Verzeihung kann nur etwas oder jemandem entgegengebracht werden, was aktiv ist. Somit verzeihen wir dem Täter fürdas, was er getan hat, beziehungsweise für das, was er einmal war. Speziell das Verzeihen gegenüber Freunden und Familie ist dieser Art, dass wir ihnen für ihre Taten vergeben im Zuge der vielen Guten Dinge, die wir mit ihnen erlebt haben (Murphy 1988, S. 29). Beim Verzeihen geht es darum, wie der eine über den anderen fühlt (Murphy 1988, S. 21, Allais 2008, S. 49). Verzeihe ich dem Schädigenden und nicht der Tat, dann sage ich, dass ich die Tat weiterhin für unmoralisch halte, aber von der handelnden Person abgrenze und davon überzeugt bin, dass sie entweder bereut was sie getan hat oder ihre Schuld einsieht (Murphy 1988, S. 24-25). Dadurch ist es möglich, an der Bewertung der Tat festzuhalten, aber davon abzusehen, dass sie ein zentraler Bestandteil des Charakters der Person ist, welche die Tat begangen hat und sie damit keine Rolle mehr für die Bewertung des Schädigenden durch den Geschädigten spielt (Allais, 2008. S. 51). 

Eine Tat gilt dann als moralisch verwerflich, wenn sie, entgegen besseren Wissens, die Würde des anderen schädigt. Wenn mir aber jemand einmalig das letzte Stück meiner Lieblingsschokolade wegisst, muss ich ihm dann dafür verzeihen, oder reicht es auch nachsichtig zu sein, wenn ich weiß, dass es nicht die Absicht war mich zu schädigen? 

Entschuldigen und Rechtfertigen, Nachsicht und Vergessen

Es bleibt also nicht aus Verzeihen von weiteren Begriffen, die in diesem Zusammenhang immer wieder auftauchen, abzugrenzen. Denn auch wenn sie oft gleichzeitig und manchmal sogar synonym verwendet werden, bestehen doch Unterschiede zwischen Verzeihen, Entschuldigung und Rechtfertigen, Nachsicht und Vergessen.

Wer einem anderen Fahrgast in der überfüllten Straßenbahn bei einer plötzlichen Bremsung auf den Fuß tritt, der entschuldigt sich, weil klar ist, dass er etwas Unangenehmes ausgelöst hat und ihm wird Entschuldigung gewährt, weil es keine Absicht gab, dem anderen Schaden zuzufügen und äußere, durch die Akteure nicht beeinflussbare Umstände hinzugekommen sind. Wir interpretieren die Handlung des anderen so, dass wir keinen Anlass dazu haben, uns angegriffen zu fühlen (Kodalle 2006, S. 13). Ein Handeln kann auch durch die Erkenntnis entschuldigt werden, dass der Schädigende keine andere Wahl hatte als so zu handeln und damit nicht vollständig verantwortlich ist (Allais 2008, S. 34-35, Kodalle 2006, S. 63, Murphy 1988, S. 20). Dabei ist es natürlich schwierig objektiv nachzuvollziehen, ob diese Gründe tatsächlich vorliegen. Es gibt genug Dispositionsgründe, die als Entschuldigung einer Tat herangezogen werden können. Somit könnte ein Schädigender für alle seine Handlung stets äußere Gründe heranziehen, die sein Handeln erklären um somit der Verantwortung seines Tuns zu entgehen. Es ist also etwas anderes sich selbst zu rechtfertigen, als entschuldigt zu werden. Der Geschädigte muss sich also die Frage stellen, was der Schädigende auch unter diesen äußeren Einflüssen noch hätte tun können und welches Leid er als Geschädigter bereit ist zu ertragen, um die Tat zu entschuldigen, ohne sie vorwerfbar zu machen (Kodalle 2006, S. 64). Entschuldigen und Rechtfertigen stehen nah beieinander. Wer sich bei einer Entscheidung für das geringere Übel entscheidet, kann moralisch falsch handeln, aber es war die bestmögliche Entscheidung (Allais 2008, S. 35, Murphy 1988, S. 20). Wir rechtfertigen uns, wenn wir in klassischen „Zwickmühlen“ stecken und daraus eine Handlung resultiert, die uns vorgeworfen werden kann. Entschuldigung und Rechtfertigung haben gemein, dass sie unsere Bewertung des Geschehenen verändern und so in Frage stellen, ob es etwas zu verzeihen gibt oder nicht (Allais 2008, S. 38).

Nachsichtig zu sein bedeutet, sich als Geschädigter einzugestehen, dass der Schädigende nur eine begrenzte Wissensreichweite hat und niemals in voller Gewissheit handeln kann das Richtige zu tun (Kodalle 2006, S. 59-60). Nachsicht kommt dort zum Einsatz, wo eine Person dem Täter nicht verzeihen kann, weil sie selbst nicht das Opfer ist und nicht stellvertretend für das Opfer verzeihen kann und daher dem Täter gegenüber Nachsicht zeigt (Kodalle 2006, S. 13-14). Zum Beispiel, wenn im Laufe einer hitzigen Diskussion oder in einem Gespräch Unterstellungen gemacht werden. Die eigene Emotionalität kann uns zu Aussagen verleiten, die von der akuten Atmosphäre des Dialogs gefärbt sind und die wir retrospektiv vielleicht nicht so bösartig gemeint haben, wie sie beim Gegenüber angekommen sind. Wenn wir zu weit gegangen sind, bitten wir um Nachsicht (Kodalle 2006, S. 82). Oder wenn klar wird, dass es gar nicht so gemeint war (Allais 2008, S. 35). Im Gegensatz zum Verzeihen ist Nachsicht, oder auch Gnade, endgültig, Verzeihen ist dies nicht (Murphy 1988, S. 21, Allais 2008, S. 48). Man kann also feststellen, dass man jemandem, dem man Verzeihung gewährt hat, trotzdem noch weiter grollt.

Vergessen bedeutet, die Tat so zu behandeln, als wäre sie niemals geschehen. Wenn aber eine Tat „Vergeben und Vergessen“ ist, so wird sie im ersten Schritt verziehen aber im zweiten schon wieder legitimiert. Denn wer vergisst wendet sich von den Tatsachen der Tat ab und lässt sie unbewertet. Eine verachtungswürdige Tat, muss auch verachtenswert bleiben. Eine vergessene Tat kann in Zukunft abermals geschehen und man müsste ihr aufs Neue verzeihen, ohne Bezug zu der bereits geschehenen Tat. Nach Murphy ist Vergessen passiv; es passiert uns einfach, ohne, dass wir es aktiv steuern könnten (Murphy 1988, S. 23).

Nun haben wir Verzeihen abgegrenzt und halten fest: Verzeihen richtet sich auf eine verantwortliche, moralisch verwerfliche Tat (Murphy 1988, S. 20). Diese Tat findet in der Beziehung zwischen mindestens zwei Parteien statt, bei der die Würde der einen Partei, durch die Tat der anderen geschädigt wurde. Diese Tat muss verantwortlich moralisch verwerflich sein. Dies ist der Fall, wenn die Tat aus freiem Willen, ohne äußeren Einfluss, bei Kenntnis der möglichen Ausgänge und entgegen besseren Wissens geschehen ist. Wir verzeihen, wenn es keine Entschuldigung oder Rechtfertigung für die Tat gibt; denn wäre sie entschuldigt oder gerechtfertigt, gäbe es nichts zu verzeihen (Allais 2008, S. 36). War die Handlung äußeren Einflüssen, wie den Zwängen Dritter oder einem unvorhersehbaren Zwischenfall unterlegen, ist sie entschuldigt. War demjenigen nicht bewusst, welche Folgen sein Handeln haben kann, zeigen wir uns nachsichtig. Wenn jemand durch seine Tat unsere Beziehung zueinander geschädigt hat, wollen wir verzeihen, weil wir Wert auf diese Beziehung legen. Verzeihen bezieht sich zwar auf das verwerfliche Handeln einer Person, aber das Verzeihen als Akt bezieht sich auf die Person als solche und nicht auf ihre Handlung. Es geht um den Schuldigen, dem der Verzeihende vergibt (Arendt 2015, S. 308). Die Tat selbst muss weiter verachtenswert bleiben. Wäre dem nicht so, würde sie legitimiert werden und es gäbe zukünftig keine Gründe sie zu unterlassen. Aber was macht Verzeihen so besonders im Unterschied, zu Entschuldigung und Nachsicht? Können wir unsere Beziehung nicht auch weiter pflegen, ohne zu verzeihen?

Warum überhaupt verzeihen?

Stellen wir uns eine Welt ohne Verzeihen vor: die Verfehlungen einer Person würden sie ein Leben lang begleiten, würde der Geschädigte nicht verzeihen. Der Schädigende würde stets auf diese eine Handlung reduziert bleiben und die Beziehung könnte nie wieder so sein, wie vor der Tat. Dabei ist aber schwer davon auszugehen, dass soziale Interaktion von Geburt an fehlerfrei beherrscht wird. Es ist nicht möglich vollständiges Wissen über alle Wünsche und Bedürfnisse des Gegenübers zu haben. Folglich begehen wir im Umgang miteinander Fehler. Würden diese Fehler nicht verziehen werden, wäre ein Umgang untereinander nicht möglich. Der Umgang wäre von der stetigen Angst geprägt, etwas falsch machen zu können, was einem uneingeschränkt vorgeworfen werden kann. Ebenso lebten wir in ständiger Angst, dass unsere Mitmenschen uns Schaden zufügen könnten, weil wir nicht darauf vertrauen könnten, dass sie uns nicht schaden. Unsere Selbstachtung ist in diesem Sinne sozialer Natur und Teil der conditio humana ist es, verletzlich zu sein (Murphy 1988, S. 25). Weil wir von einer tiefen Zerrissenheit der conditio humana ausgehen und nicht auf die Gnade Gottes hoffen können, müssen wir unsere Existenz selbst gestalten (Kodalle 2006, S. 24). Respekt vor dem Anderen ist die Grundlage des Verzeihens, weil Respekt der Beweggrund dafür ist, jemandem etwas zu vergeben, was er getan hat um anzuerkennen, wer er ist (Arendt 2015, S. 310). Verzeihen dient der Aufhebung moralischer Schuld, wobei die Einsicht des Schädigenden in seine eigene Schuld glaubhaft sein muss (Kodalle 2006, S. 67, 69). Daraus ergibt sich eine Notwendigkeit der Existenz des Verzeihens als möglichen Akt, basierend auf dreierlei Gründen.

  1. Niemand ist fehlerfrei

    Insofern der Mensch frei ist, handelt er. Als vernunftbegabtes Wesen ist der Mensch dazu fähig, sein Handeln zu reflektieren und in Bezug zu seiner Umwelt und Mitmenschen zu setzen. Das heißt, der Mensch ist dazu fähig die Auswirkungen seines Handelns, ob kurz- oder langfristig- zu überblicken und, deren Konsequenzen abzuwägen und die Verantwortung für sein Handeln zu übernehmen. Somit sind auch alle Menschen prinzipiell zu den gleichen Gräuel oder guten Taten fähig (Allais 2008, S. 60). Aber weil es unendlich viele Möglichkeiten gibt, im Umgang mit anderen Menschen richtig oder falsch zu handeln, sind unsere Handlungen, wie wir bereits gesehen haben, fehlbar. Wer handelt kann auch schuldig werden und es ist unmöglich, sich aller Aktivitäten zu enthalten, die eine Verletzung des anderen verursachen könnten (Kodalle 2006, S. 17-18). Selbst wenn unser Handeln nach bestem Wissen und Gewissen geschieht, müssen wir uns eingestehen, dass alle Folgen abzusehen unmöglich ist (Kodalle 2006, S. 9). Das gilt für alle Menschen gleichermaßen. Wir sind immer wieder auf Verzeihung angewiesen, um unserem prinzipiell verschuldeten Dasein die Möglichkeit zu geben, ständige Neuanfänge zu machen, zu denen wir uns grundsätzlich die Chance geben müssen (Kodalle 2006, S. 5, Allais 2008, S. 68). Weil wir mit anderen Menschen zusammenleben und von deren Existenz, egal ob direkt oder indirekt, profitieren, leben wir unweigerlich auf Kosten anderer (Kodalle 2006, S. 76). Das heißt die Chance schuldig zu werden ist hoch. 

    Das Handeln ist frei und von einer subjektiven Intentionalität durchzogen. Hannah Arendt und Lucy Allais sagen, dass es einer Leugnung der menschlichen Wirklichkeit gleichkomme, die subjektiven Faktoren des menschlichen Handelns aus dem Handeln an sich, also die subjektiven Motive und Beweggründe, auszuschließen; denn es sind eben jene, die das menschliche Handeln leiten (Arendt 2015, S. 226, Allais 2008, S. 61). Das Individuum konstituiert sich erst durch sein Handeln und es schreibt seine Biografie durch seine Handlungen selbst, ohne Einfluss durch höhere Mächte, seien dies Gottheiten oder das Schicksal (Arendt 2015, S. 231). In Bezug auf Alan Gewirth schreibt Nikolaus Knoepffler, dass „(...) Freiheit und Intentionalität für einen moralischen Handlungsbegriff konstitutiv sind (…)“ und die Handelnden das Vermögen besitzen, ihr Handeln zu entwerfen und „(...) bei Kenntnis der relevanten Umstände wählen können, was sie tun“ (Knoepffler 2013, S. 77). Das heißt der Wille etwas zu tun und die daraufhin durchgeführte Handlung sind in einem gewissen Sinne geplant, gewollt und nicht durch einen fremden Willen beeinflusst. Der Mensch wird erst Mensch durch sein Handeln. Das Individuum wird zum Subjekt durch seinen Umgang mit den ihn umgebenden Objekten. Wenn wir darüber sprechen, wie jemand ist, dann sprechen wir über sein Handeln (Allais 2008, S. 61). Karl Popper postuliert das Ich als nicht-substanziell, aber durchaus die von diesem Ich ausgehenden Handlungen, welche in Reflexion mit dem Gegenüber das eigene Ich konstituieren (Popper 2015, S. 264, 266). Wer wir sind, werden wir durch unser Tun und unser Tun ist die substanzgewordene Entfaltung unseres Ich. Aber weil Handlungen eben nicht rückgängig gemacht werden können und wir darauf angewiesen sind, auf das Einhalten von Versprechen unserer Mitmenschen uns keinen Schaden zuzufügen zu vertrauen, ist das Verzeihen das Heilmittel gegen die Unwiderruflichkeit des Handelns (Arendt 2015, S. 301). Vertrauen ist nicht nur in persönlichen Beziehungen relevant, sondern auch gegenüber Fremden. Wenn man nicht darauf vertrauen kann, dass einem die Menschen, denen man alltäglich begegnet, keinen Schaden zufügen, wäre es unmöglich sich sicher zu bewegen oder eine gesellschaftliche Struktur des Miteinanders aufrecht zu erhalten. Versprechen und das Vertrauen auf ein Versprechen und das Verzeihen stehen sich damit also gegenüber. Das Verzeihen heilt die Wunden eines gebrochenen Versprechens. Könnten wir nicht verzeihen, dann würden uns die Folgen einer einzigen Handlung bis zum Tode verfolgen und der Wert einer Person würde sich nur noch daran bemessen (Arendt 2015, S. 302). Wir können nicht erwarten fehlerlos zu sein und ebenso können wir dies nicht von unseren Mitmenschen erwarten, denn Fehler sind alltägliche Vorkommnisse und könnten wir nicht verzeihen, wäre die Freiheit eingeschränkt, derer unglaublicher Last wir im Laufe des Lebens lernen habhaft zu werden und so bietet das Verzeihen die Möglichkeit, die Fehler des eigenen Handelns als Aufforderung zu sehen, das Getane zu reflektieren und Besserung zu geloben (Arendt 2015, S. 306). Weiterhin dürfen wir nicht vergessen, dass unsere Absichten, seien sie noch so tugendhaft, beim Gegenüber durchaus Gefühle auslösen können, die wir zuvor nicht intendiert haben. Das liegt an den unterschiedlichen Ebenen der menschlichen Kommunikation. In der Kommunikation kommt es nämlich, aufgrund unserer individuellen Verstehensprozesse immer wieder zu Missverständnissen (Kodalle 2006, S. 90). Im Laufe unserer Lebens wird es zwangsläufig zu Verletzungen unserer Liebsten durch uns selbst kommen. Weil wir unsere Beziehung mit ihnen so wertschätzen, hoffen wir, dass uns verziehen werden kann und dementsprechend sollten wir selbst auch verzeihen können (Murphy 1988, S. 32). Verzeihen gibt dem Schädigenden die Möglichkeit sich zu reformieren und wir sollten vergeben, weil wir selbst Vergebung erwarten (Murphy 1988, S. 30). 

  2. Um sich nicht Ressentiments hinzugeben

    Murphy sieht Ressentiments als Mechanismus um bestimmte Werte des Selbst zu verteidigen, bei dem die Selbstachtung dadurch gewahrt wird, dass wir moralisch verwerfliche Dinge, die uns angetan werden als solche erkennen und wahrnehmen und damit den Einfluss, den diese auf uns nehmen registrieren (Murphy 1988, S. 16). Wer den Dingen, die einem angetan wurden, also nicht grollt, der respektiert sich selbst nicht ausreichend um deren Schaden ernstzunehmen und seinen eigenen Wert anzuerkennen, was bedeutet, dass Ressentiments in diesem Sinne zunächst etwas Gutes sind, solange sie sich nicht in Hass verwandeln oder gefährlich werden (Murphy 1988, S. 16). Ressentiments dienen demnach dazu die eigene Würde und Selbstachtung zu wahren. Sie sind gerechtfertigt, insofern der Geschädigte den Schädigenden als für seine Taten verantwortlich sieht und der Akt als solches als moralisch verwerflich interpretiert wird (Allais 2008, S. 43). Wer jemandem grollt zeigt dadurch, dass er sich verletzt fühlt. Verzeihen ist dann der nächste Schritt nach den Ressentiments, weil es die Wunden heilt, die uns jemand zugefügt hat (Murphy 1988, S. 17). Verzeihen dient hier teleologischen Gründen bezogen auf die Fertigkeit mit der eigenen Würde auch nacheiner Verletzung respektvoll umzugehen. Im Zuge dessen ist Verzeihen für Murphy nur dann akzeptabel, solange es im Einklang mit der Selbstachtung und der Achtung vor anderen geschieht (Murphy 1988, S. 19). Das heißt aber nicht, dass dabei auf eine gesetzliche Strafe verzichtet wird (Murphy 1988, S. 21, 33, Allais 2008, S. 48). Und verziehen zu haben bedeutet auch nicht, dass alle Ressentiments verschwunden sind, denn nur weil es nichts mehr zu grollen gibt, heißt dies noch nicht, dass auch verziehen wurde (Murphy 1988, S. 22-23, Allais 2008, S. 48). Damit ist klar, dass Ressentiments die Grundlage dafür sind, dass überhaupt ein Verzeihen stattfinden kann, nicht aber, dass auch tatsächlich verziehen wird. Verzeihen soll Ressentiments nicht bedingungslos überwinden, sondern aus moralischen Gründen darauf verzichten, weil der Schädigende seine Tat bereut, eine gute Intention hatte, genug unter den Ressentiments gelitten hat, gedemütigt wurde oder „der guten alten Zeiten wegen“ (Murphy 1988, S. 24). Damit stellt Murphy Gründe auf, aus denen Verzeihung als Verzicht auf Ressentiments gerechtfertigt ist. Für Murphy ist Verzeihen also die Überwindung von Ressentiments aus moralischen Gründen (Allais 2008, S. 44). Nämlich aus Selbstachtung und Achtung vor den allgemeinen moralischen Gesetzen. Murphy geht es darum, welchem Zweck das Verzeihen dem Verzeihenden dient. Eine arrogante und egoistische Position wäre es, nur deswegen zu verzeihen, damit uns auch verziehen wird, wenn es darauf ankommt (Murphy 1988, S. 32). Das käme dem Versuch gleich, sich einen Freifahrtschein für die eigenen Verfehlungen zu erkaufen, indem man vorschieben kann, man selbst würde doch stets verzeihen, also müsste einem doch auch verziehen werden.

  3. Um die Gefühle gegenüber der Person zu ändern

    Allais ergänzt, dass diese moralischen Gründe allein nicht ausreichend sind. Es muss zusätzlich darum gehen, inwiefern sich die Einstellung gegenüber dem Schädigenden durch das Verzeihen verändert, während die Bewertung der verwerflichen Tat gleich bleibt (Allais 2008, S. 43, 44). Die Umstände zu akzeptieren würde ebenfalls die Einstellung gegenüber dem Schädigenden verändern, schließt Verzeihen aber nicht ein (Allais 2008, S. 44). Weiterhin ist Verzeihen nicht vereinbar mit dem Wunsch nach Vergeltung, also der Forderung, dass der Schädigende unter den Folgen seiner Handlungen leiden soll, sondern vielmehr, dass das Aufgeben von Vergeltungswünschen notwendig ist um verzeihen zu können, während dabei die Person weiterhin durch die veränderte Sicht des Geschädigten für ihre Übertretung getadelt werden kann (Allais 2008, S. 55). Jemandem etwas vorwerfen bedeutet also die Art und Weise wie diese Person gesehen wird zu verändern; und zwar in negativer Hinsicht (Allais 2008, S. 56). So lange der Geschädigte also grollt, wütend ist oder sich Vergeltung wünscht, wird dem Schädigenden die Tat auch vorgeworfen, wodurch weiterhin eine Asymmetrie bestehen bleibt und es nicht möglich ist wieder Vertrauen aufzubauen (Allais 2008, S. 56). Das Verzeihen verändert diese Gefühle in der Form, dass die Sicht auf die Person nicht weiter herabgesetzt ist, während die Bewertung der Tat gleich bleibt (Allais 2008, S. 56, 59). Der Akt ist für die Beziehung nicht weiter relevant (Allais 2008, S. 57). Das unterstreicht den beziehungsgestalterischen Aspekt des Verzeihens. Diese Darstellung lässt aber auch zu, dass auch Personen verziehen werden kann, zu denen man prinzipiell keine tiefe Beziehung führt. Die Beziehung wird durch das Verzeihen nicht besser als vorher, sondern wieder symmetrisch und der Schädigende wird als Person nicht vollständig durch seine Taten definiert. Man kann also Menschen verzeihen, ohne sie als grundsätzlich gut zu betrachten, während man einem geliebten Menschen eine Tat nicht verzeiht, ohne davon abzusehen, dass sie grundsätzlich gut ist, wobei die Beziehung in diesem Fall wohl unweigerlich Schaden nehmen würde (Allais 2008, S. 57). Für Allais geht es mehr darum, welchem Zweck das Verzeihen der Beziehung dient. 

 

Wir haben gesehen, dass wir durch Verzeihen unsere Beziehungen gestalten. Wenn wir verzeihen erlauben wir unseren Gefühlen gegenüber dem Schädigenden eine Revision. Damit geben wir uns selbst die Möglichkeit die Person als verantwortlichen Akteur zu sehen, die von ihrer Tat Abstand nimmt und beurteilen sie auf Augenhöhe. Das hilft uns, unsere eigene Würde zu wahren, insofern wir nicht leichtfertig verzeihen. Die Ressentiments, die wir der Person entgegenbringen zeigen uns, dass wir uns selbst ausreichend wertschätzen, um uns verletzt zu fühlen. Verzichten wir im Verzeihen auf diese Ressentiments, zeigen wir, dass wir dem Schädigenden die Möglichkeit geben wollen, sich zu reformieren. Darin steckt der Glaube, dass die Person nicht allein durch diese eine Handlung definiert werden soll. Wir verzeihen, weil wir wissen, dass wir selbst nicht fehlerfrei sind und uns selbst eine ähnliche Sache auch hätte passieren können. Denn wir können niemals ohne Einschränkung wissen, was der Gegenüber von uns erwartet. Verzeihen gibt uns die Möglichkeit aus unseren Fehlern zu lernen und zu wachsen und zu beweisen, dass wir mehr sind als einzelne Taten vermuten lassen. Missachten wir die moralischen Gesetze, wenn wir nicht verzeihen? Dann wären wir zum Verzeihen verpflichtet. Denn wenn das Wissen um die eigene Fehlbarkeit uns zum Verzeihen motiviert, weil wir möchten, dass uns auch verziehen wird, dann würde das bedeuten, dass wir keine andere Wahl haben, als zu verzeihen.

 

Verpflichtung zum Verzeihen oder „Geist der Verzeihung“?

Aber ergibt sich daraus eine Verpflichtungzum Verzeihen? Oder bedeutet das eher, dass es einen inhärenten Geist der Verzeihung, als eine Kraft geben muss, die sowohl individuelle wie kollektive Akte durchzieht und sich als Manifestation allen Handelns konstituiert (Kodalle 2006, S. 9)? Für Kodalle sind es dabei nicht die expliziten Aktedes Verzeihens, sondern eine Grundhaltung, die uns dazu befähigt zu verzeihen (Kodalle 2006, S. 8). DiesenGeist der Verzeihung verstehe ich als eine tief grundsätzliche Möglichkeit, welche im kollektiven Einverständnis des Mensch-Seins jeden Aspekt unseres existentiellen Selbstverständnisses durchzieht. Murphy nennt dies eine „Disposition des Vergebens“, also die Anwesenheit der Möglichkeit des Verzeihens (Murphy 1988, S. 32). Diese durchzieht das Mensch-Sein an sich. Dieser Geist kann vorausgesetzt werden. Er muss als Sphäre der Möglichkeit des Verzeihens existieren, als Idee dessen, was Verzeihen als Akt in unsere Welt bringt. Mehr noch ist Verzeihen zu können die Manifestation der menschlichen Freiheit, weil jeder Mensch darin, unabhängig seiner individuellen Dispositionen, die „(...) Souveränität und Größe des Menschseins zum Ausdruck bringt“ (Kodalle 2006, S. 35). Hingegen kann der einzelne individuelle Akt des Verzeihens, wie beispielsweise im Ich-und-Du, nicht obligatorisch sein (Allais, Kodalle 2006, S. 12). Wäre verzeihen obligatorisch, könnte es gefordert werden und das würde die Bedeutung des Aktes zunichte machen. Dies zeigt, dass eine Verpflichtung zur Verzeihung kontraintuitiv ist und es eher eine grundsätzliche Notwendigkeit der Anwesenheit einer Sphäre des Verzeihens bedarf – einer Möglichkeit das menschliche Miteinander zu gestalten. „Das moralische Subjekt, das Integrität anstrebtund um seine Selbstgefährdung weiß, ist auf diesen Geist der Verzeihung angewiesen, um die Möglichkeit der Selbstachtung auch im Scheitern zu wahren“ (Kodalle 2006, S. 23). Aber die Person ist mehr als ihre Untat und daher ist Verzeihen notwendig, um anzuerkennen, dass jemand mehr ist, als das Unrecht, das er beging (Arendt 2015, S. 311). Wenn wir auf diesen Geist der Verzeihung angewiesen sind, dann müsste es als Tugend gelten, wenn man verzeihen kann. Ist es demnach tugendhaft stets zu verzeihen? Murphy sagt klar, dass zu leichtfertiges Verzeihen der Selbstachtung schadet, weil man damit signalisiert die Menschen bräuchten sich keine Gedanken über die Konsequenzen ihres Handelns machen, da ihnen sowieso verziehen wird (Murphy 1988, S. 17). Die Selbstachtung bewegt sich also in der Schnittmenge zwischen Ressentiments und Verzeihung. Wer zu viel grollt, der schadet seiner Selbstachtung, weil er einer Auseinandersetzung mit seiner Verletzung nicht Stand hält und ihr keine Möglichkeit gibt zu heilen, was letztlich bedeutet sich den Ressentiments zu ergeben. Wer zu leichtfertig verzeiht schadet seiner Selbstachtung, weil er damit signalisiert, dass jede Tat, unabhängig davon wie schwer sie ist, stets verziehen wird. Damit legitimieren wir die unmoralischen Handlungen unserer Gegenüber (Murphy 1988, S. 18).

Wer seiner Selbstachtung keinen Respekt zollt schadet damit auch den allgemeinen moralischen Gesetzen, weil er das Ausmaß der Verletzungen dadurch untergräbt und auch nach aussen sendet, dass die Tat nicht ernst zu nehmen sei und weil die Moral genauso gepflegt werden muss wie die Selbstachtung, pflegt man dadurch auch die Würde anderer (Murphy 1988, S. 18).

Weil wir bereits gesehen haben, dass zu leichtfertiges Verzeihen respektlos gegenüber der eigenen Würde und den allgemeinen moralischen Gesetzen ist, stellt sich nun die Frage, wie es zu bewerten ist, wenn jemand überhaupt nicht verzeiht. Wir haben gesehen, dass wir alle des Verzeihens bedürfen, weil wir alle fehlerhaft sind. Und verzeihen zu können kann auch ein moralisches Vorbild sein. Nach Murphy ist derjenige, der nicht verzeihen kann, gar nicht beziehungsfähig (Murphy 1988, S. 17). Wer also im menschlichen Miteinander leben möchte, der muss demnach verzeihen können. Es besteht aber ein grundsätzlicher Unterschied zwischen verzeihen könnenund verzeihen wollen. Wer aufgrund der Schwere einer Tat oder der Verletzung, die er erlitten hat, nicht verzeihen kann, der hat dafür vielleicht gute Gründe. Das muss aber nicht heißen, dass er grundsätzlich nicht zum Verzeihen bereit ist. Nur ist ihm Verzeihen in diesem einen Fall nicht möglich. Wer aber nicht verzeihen will, sich also der grundsätzlichen Möglichkeit einer Verzeihung verschließt, der handelt entgegen des Geistes der Verzeihung. Also ist der Geist des Verzeihensobligatorisch, nicht aber der individuelle Akt des Verzeihens. Oder anders ausgedrückt: ich muss verzeihen wollen, aber nicht verzeihen können. Aber angenommen, jemand ist grundsätzlich zum Verzeihen bereit, aber verzeiht im Laufe seines Lebens niemals, aus welchen Gründen auch immer; kann derjenige sich darauf berufen, dass er doch prinzipiell zum verzeihen bereit gewesen wäre? Reicht ein einmaliges Verzeihen im Laufe des Lebens um dem Geist der Verzeihung Genüge zu tun? Wann muss ich wem wie oft verzeihen?

 

Die Unverallgemeinerbarkeit des Verzeihens

Wenn wir von einem Geist der Verzeihung als grundsätzliche Möglichkeit der Handlungsoption des Verzeihens ausgehen, dann braucht es die Beziehung zweier Subjekte, die durch Schuld belastet ist. Diese Schuld führt dazu, dass der Geschädigte dem Schädigenden grollt. Diese Ressentiments dienen dazu, im Zuge der Selbstachtung eine Verletzung als solche zu erkennen. Diese Verletzung führt zu reaktionären Gefühlen dem Schädigenden gegenüber. Zeigt letzterer sich schuldeinsichtig, dann verzeihen wir um diese Gefühle aufzugeben und ihm die Möglichkeit zu geben sich zu reformieren und auf Vergeltung zu verzichten. Der Verzicht auf Vergeltung ist auch ein Verzicht auf Ressentiments aus moralischen Gründen, weil wir wissen, dass wir selbst nicht fehlerfrei sind und wir im Sinne eines Geistes der Verzeihung ebenfalls Verzeihung erwarten dürfen, sollten uns selbst Fehler passieren. Verzeihen ist also eine Form von Konklusion aus den zuvor genannten Prämissen. Interessanterweise ist das Verzeihen aber nicht nur das Ergebnis der Prämissen, sondern hebt diese ebenso auf. Dies hat den Zweck, die durch die Verletzung erzeugte Asymmetrie wieder herzustellen und die Beziehung damit wieder an einen Punkt zu bringen, an dem sich die Subjekte auf Augenhöhe, also symmetrisch, gegenüberstehen. 

Da Verzeihen den direkten Bezug zwischen Ich-und-Du betrifft, ist die Option des Verzeihens abhängig von der Schwere der Tat und in welcher Beziehung der Geschädigte und der Schädiger stehen (Kodalle 2013, S. 207). Aber manchmal geht Verzeihen auch über das Ich-und-Du hinaus, nämlich wenn man alleiniges Opfer vieler Täter wird, oder viele Täter viele Opfer haben. Es ist also etwas völlig anderes, dem Partner zu verzeihen, wenn er fremdgegangen ist, als einem Serienmörder zu Verzeihen, der einem einen geliebten Menschen genommen hat und man sich mit anderen Hinterbliebenen solidarisiert. Aber warum ist das so? Sollte Verzeihen nicht etwas sein, bei dem wir uns nach allgemeinen Maßstäben richten können um zu wissen, wann Verzeihen angebracht ist und wann nicht? Denn von einer philosophischen Theorie des Verzeihens fordern wir, dass wir sie unabhängig der individuellen Umstände, der subjektiven Empfindungen und der Menschen die betroffen sind, anwenden können; denn es muss egal sein ob jemand grundsätzlich böse oder gut ist (Kodalle 2006, S. 32).

Wenn dem so ist, warum können uns dann die Menschen, die uns am nächsten sind, am einfachsten verletzen (Murphy 1988, S. 17)und dennoch neigen wir dazu, ihnen am ehesten zu verzeihen? Wenn wir fordern, dass Verzeihen unparteiisch sein soll, dann zeigt die Realität doch, dass so eine Forderung praktisch nicht umsetzbar ist. Und mehr noch: wenn Verzeihen dazu dienen soll unsere zwischenmenschlichen Beziehungen zu gestalten und aufrecht zu erhalten (Allais 2008, S. 68), dann ist Verzeihen nicht nur ein Werkzeug, sondern essentieller Teil des menschlichen Zusammenlebens (Kodalle 2006, S. 24). Das heißt nichts anderes, als das wir, eben weil wir Beziehungen zu unterschiedlichen Menschen unterschiedlich bewerten, auch unsere Bewertung einer Tat und des Täters daran anpassen. Ganz einfach, weil es Beziehungen gibt, die es eher wert sind zu erhalten, während das bei anderen nicht der Fall ist. Wenn Murphy sagt, dass „der guten alten Zeiten wegen“ ein moralischer Grund für Verzeihen sein kann (Murphy 1988, S. 24), dann ist klar, dass die Bewertung der Tat und des Täters hier nicht parteilos sind. Jene, die uns am nächsten stehen, betrachten wir doch eher als die Guten und zu Veränderung fähig, als jene, die uns nicht so nahe stehen. Zusätzlich kann es Situationen geben in denen wir Verzeihen wollen, aber gar keine Beziehung zu dem Täter besteht. Das heißt die Prämisse der Beziehung, die durch Schuld belastet ist, muss nicht zwangsläufig zutreffen. Und dann ist das Erhalten einer Beziehung als Grundlage für Verzeihen auch nicht mehr ausschlaggebend, da niemals eine Beziehung bestand. Ressentiments und reaktionäre Gefühle können sich auch an jemanden richten, den wir gar nicht kennen, zu dem wir keinen direkten Bezug haben oder der bereits verstorben ist. Also ist es auch möglich demjenigen zu verzeihen (Allais 2008, S. 65). Verzeihen geht dabei direkt vom Geschädigten aus und kann nicht durch jemand anderen übernommen werden (Murphy 1988, S. 16). Dennoch ist es Aussenstehenden gestattet, dem Schädigenden ebenfalls zu grollen, weil dieser die allgemeinen moralischen Gesetze übertreten hat; sie werden demnach zu sekundären Geschädigten (Murphy 1988, S. 16). Verzeihen muss damit viel globaler gedacht werden. Denn der Geist des Verzeihens überschreitet das interpersonelle Ich-und-Du und geht damit in eine Sphäre der Beziehungen aller Menschen zu allen Menschen. Wer von einer Tat nicht direkt betroffen ist, aber erkennt, dass allgemeine moralische Gesetze übertreten wurden, der hat gute Gründe diese Übertretung anzuprangern.

Rechnen wir die Taten eines Schädigenden als beständige Größe seinem Wesen zu, dann wird das Verzeihen schwieriger (Kodalle 2006, S. 15). Wir können nämlich nicht umhin uns ein Bild von jemandem zu machen (Kodalle 2006, S. 16). Aber das Bild des Gegenüber ist niemals vollständig und deswegen haben wir niemals vollständige epistemische Beweise zum Charakter eines anderen Menschen (Allais 2008, S. 60). Deswegen können wir nicht beurteilen, ob die Tat den Charakter des Menschen vollständig widerspiegelt oder nicht. Wir können uns dem nur annähern. Bei einer verwerflichen Tat gleichen wir das Bild mit der aktuellen Situation ab und versuchen diese in das Gesamtkonzept, das wir von dieser Person haben, einzuordnen. Diese Beurteilung passiert aber auf Grundlage des unvollständigen Wissens, dass wir von einer Person haben. Wenn wir Reue als Voraussetzung für Verzeihen fordern, muss uns anhand der gewonnen Erkenntnisse klar werden, dass Reue auch gelogen sein kann. Ob wir jemandem eine Tat als beständige Größe seines Charakters anrechnen, basiert allein auf der empirischen Häufigkeit der auftretenden Taten.

Es fällt uns leichter zu verzeihen, wenn wir davon überzeugt sind, dass der Schädigende sich von seiner Tat distanziert und sein Verhalten nicht länger gutheißt (Murphy 1988, S. 25). Zu reuen ist der eindeutigste Weg sich von seinen Taten zu distanzieren (Murphy 1988, S. 26). Schuld ist die Reaktion des Schädigenden auf seine Handlungen, während Verzeihen die Reaktion des Geschädigten auf die Handlungen des Schädigenden ist (Allais 2008, S. 55). Wer sich schuldig fühlt, muss also verstanden haben, dass seine Taten gegenüber der anderen Person falsch und verwerflich waren. Vielleicht sehen wir auch, dass der Schädigende durch den ihm entgegengebrachten Groll leidet, weil er die Beziehung genauso wertschätzt, wie wir es selbst tun. Führt dieses Leid zu Reue haben wir abermals einen Grund zu verzeihen (Murphy 1988, S. 26). Ist aber nicht jemanden leiden zu lassen, bis er seine Taten reut, nicht das Gleiche wie Rache? Geben mir meine Ressentiments das Recht jemanden leiden zu lassen oder verstärkt das nicht nur die aufgekommene Asymmetrie? Denn das Leid erniedrigt den anderen in seiner Position bis zu einem Punkt, an dem das Leid des Schädigenden äquivalent zu dem des Geschädigten ist, was deren Symmetrie wieder herstellen würde (Murphy 1988, S. 27). Darin steckt eine biblische Auge-um-Auge-Logik, bei der diskussionswürdig ist, ob das Leid des einen, das Leid des anderen rechtfertigt. Dazu kommt, dass es manchmal nicht zu evaluieren ist, ob der Schädigende wirklich reut oder nicht. Er könnte lügen. Er könnte auch tot sein und dahingehend nicht mehr befragt werden können. Oder es handelt sich nicht um einen Einzeltäter, sondern, wie bei den Nazis, um eine große Gruppe von Tätern, bei denen schwer zu sagen ist, ob sie ihre Taten allesamt bereuen. 

Im Falle des Holocaust kommt auch noch hinzu, dass es nicht nur viele Täter, sondern auch viele Opfer gibt. Ein individuelles Opfer kann zwar für sich aus seiner Sicht verzeihen, aber niemals für die ganze Gruppe sprechen. Das kollektive Urteil fehlt.

Je alltäglicher eine verwerfliche Tat ist, desto leichter ist sie zu verzeihen, weil die Wahrscheinlichkeit steigt, dass wir sie selbst begehen. Je unsäglicher eine Tat ist, desto unverzeihlicher wird sie, weil die Wahrscheinlichkeit, dass wir sie selbst begehen, abnimmt und somit auch ihre absolute Häufigkeit. Wir haben also weniger gelernt mit dem Unverzeihlichen umzugehen, weil es weniger häufig auftritt und uns ein angemessener Maßstab zu ihrer Beurteilung fehlt. Ob etwas verzeihlich oder unverzeihlich ist, ist abhängig von der Schwere der Tat und dem individuellen Bezug zur Tat. Betrifft es nur mich im Ich-und-Du, oder überschreitet es meine subjektiven Grenzen, wodurch der Schädigende keinem individuellen, sondern einem allgemeinen, öffentlichen Verzeihen ergeben ist? Es ist wahrscheinlich unmöglich, die Beziehung der Subjekte, die Gräuel der Tat, das erlebte Ausmaß der Verletzung und die Häufigkeit der Tat als Einflüsse darauf, ob und wann wir verzeihen auszublenden. Soziale und psychologische Faktoren nehmen einen Einfluss. Können wir fordern zu verzeihen und dabei das Wissen oder Nichtwissen, das wir über den anderen haben, aussen vor lassen? Wir haben schon gesehen, dass es leichter ist zu verzeihen und nachsichtig zu sein, wenn wir die Tat nicht als grundsätzlichen Wesenszug der Person erachten. Wenn Verzeihen ein essentieller Teil der zwischenmenschlichen Beziehungsgestaltung, ja sogar deren Grundfeste ist, die das Miteinander überhaupt erst möglich machen, dann können wir nicht erwarten unsere Beurteilung einer Tat und des Täters völlig von den Einflüssen des Miteinanders abzugrenzen.

 

Teil II

In ihrem Handeln implizieren die Menschen stets mehr, als sie glaubten verantworten zu können“ 

- Klaus-Michael Kodalle 2006, S. 17

 

Um die Problematik der Unverallgemeinerbarkeit des Verzeihens darzustellen, werde ich Beispiele heranziehen, bei denen verschiedene Grade von Vertrauensbrüchen aufgezeigt werden und diese dann auf Grundlage der zuvor gemachten Erkenntnisse analysieren. Dabei soll es sowohl um Taten gehen, die einen individuellen alltäglichen Bezug haben, als auch Taten, die weit darüber hinausgehen und eine Form von öffentlichem Verzeihen fordern. Ziel ist es zu zeigen, dass selbst innerhalb der Fälle eine verallgemeinerte Form von Verzeihen schwer anwendbar ist, weil es Aspekte, wie die Form der Beziehung und den Grad der Verletzung gibt, welche die Bewertung einer Tat verändern und es so keine Richtlinie geben kann, nach der bewertet wird, ob und wie Verzeihen stattfindet. 

Beispiel A: Alltägliche Vertrauensbrüche

Jemand hat mir das letzte Stück meiner Lieblingsschokolade weggegessen, obwohl demjenigen bewusst war, wie sehr ich diese Schokolade mag. Zusätzlich ist diese Schokolade sehr teuer und schwer zu beschaffen, weil sie von einer besonderen Sorte ist, die nicht überall gekauft werden kann. Auch das ist demjenigen bewusst. Eine Situation wie diese betrifft das Ich-und-Du. Die Tat des Schädigenden wirkt sich auf einen einzelnen Geschädigten aus. 

Das interessante an Fällen wie diesen und generell Fällen, die alltäglicher Natur sind ist, dass wir sie intuitiv als leicht verzeihlich bewerten. Aber wenn man solche Fälle auf die Spitze treibt zeigt sich, dass auch diese an einen Punkt gelangen können, an denen wir nicht mehr sagen würden, sie seien per se leicht verzeihlich. 

Angenommen der Schädigende würde die Schokolade nicht nur einziges Mal nehmen, sondern immer wieder. Wie wir gesehen haben würde das dazu führen, dass wir sein Verhalten als einen grundsätzlichen Wesenszug bewerten und das Verzeihen fiele uns schwerer. Würden wir vielleicht leichter verzeihen, eben weil die Tat so alltäglich ist und damit die Wahrscheinlichkeit steigt, dass wir sie – oder eine vergleichbare Tat – selbst begehen? Dann könnte man annehmen, dass Reue keine Prämisse mehr für unser Verzeihen ist. Denn je alltäglicher eine Tat, desto leichter verzeihlich, desto eher verzichten wir auf des Täters Schuldeinsicht? Das klingt kontraintuitiv wird aber klarer, wenn man das Argument aus der anderen Richtung aufrollt. Je weniger ein Täter seine Schuld einsieht oder seine Taten reut, desto alltäglicher muss eine Tat sein, damit wir sie leichter verzeihen. Wenn eine Tat aber immer wieder geschieht und der Täter somit beweist, dass er keinen Grund hat sein Verhalten zu ändern, geraten wir irgendwann an unsere Grenzen und sind dann geneigt nicht mehr zu Verzeihen. Da hier aber das Verhalten des Schädigenden im Mittelpunkt steht, ist die Intention des Verzeihens hier wohl eher der Ausblick auf Verhaltensänderung des Schädigenden, als unsere eigene Verletzung. Verzeihen hat hier einen Vorbildcharakter. Indem wir dem Schädigenden verzeihen wollen wir zeigen, dass grundsätzlich verziehen werden kann und wir daran glauben, dass der Schädigende sein Verhalten doch ändern wird.

Beispiel B: Fremdgehen

In einer monogamen Partnerschaft, geht einer der Partner fremd, obwohl sich beide gegenseitige Treue geschworen haben. Taten wie diese betreffen abermals das direkte Ich-und-Du. 

Intuitiv ist dies schwerer zu verzeihen. Das liegt unter anderem daran, dass die Partner in langen Partnerschaften durch gemeinsame Haushalte und vielleicht auch Kinder eine Form von Abhängig zueinander aufbauen. Das heißt, wenn die Beziehung in die Brüche geht, steht mehr auf dem Spiel als nur das Ende der Beziehung. Dazu kommt, dass wir von uns selbst tendenziell eher glauben, eine solche Tat nicht oder eher nicht zu begehen. Das heißt die Wahrscheinlichkeit, dass wir selbst einer solchen Tat schuldig werden ist geringer und daher haben wir nicht gelernt damit umzugehen. Auch glauben wir, wenn wir das Fremdgehen verzeihen, dem Partner auf diese Weise zu vermitteln, wir erlebten seine Tat als keinen Grund für eine Trennung, was einer Legitimierung gleichkommen würde. Bei anderen Taten haben wir diese Befürchtung vielleicht weniger. Das zeigt, dass die Befürchtung, zu leichtes Verzeihen könne zu einer Legitimierung der Taten führen, hier nicht greift. Denn die Tat ist intuitiv schwerer verzeihlich, als jene aus Beispiel A. Im Hinblick auf das eingangs erwähnte Zitat vergessen wir vielleicht, dass der Schädigende sein Fremdgehen weniger verantworten kann als wir glauben und er selbst glaubt. Das Ausmaß der Verletzung wird vielleicht erst hinterher klar. Kann sich der Schädigende daher für seine Tat entschuldigen oder rechtfertigen? Wohl kaum, denn man schläft nicht „aus Versehen“ mit jemand anderem. 

Es gibt einen weiteren wichtigen Aspekt an diesem Beispiel. Haben wir von dem Treuebruch durch unseren Partner erfahren oder indirekt durch eine dritte Person? Wenn unser Partner uns aus freien Stücken von seinem Fehler erzählt, dann attestieren wir ihm wenigstens an dieser Stelle Ehrlichkeit und das Verzeihen fällt ein Stück leichter. 

Das Beispiel zeigt auch eindringlich, wie uns nahestehende Menschen am leichtesten verletzen können. Sind wir in diesem speziellen Fall deswegen eher geneigt zu verzeihen? Das Ausmaß der Verletzung ist immerhin sehr hoch. Im Vergleich zu Beispiel A zeigt dieses hier doch eindringlich, dass die Intensität der Beziehung das Ausmaß der Verletzung deutlich erhöht und dadurch auch viel mehr auf dem Spiel steht. Die Intensität unserer Beziehung, die Reue des Schädigenden und seine Schuldeinsicht stehen in direkter Korrelation zur erlebten Verletzung, gegensätzlich zum vorherigen Beispiel. Wenn wir hier verzeihen wollen, dann, weil uns die Beziehung wichtig ist und wir sie gegebenenfalls erhalten wollen und um mit unserer eigenen Verletzung umzugehen. Da mehr auf dem Spiel steht gilt es auch mehr zu investieren. Unser Verzeihen im Ich-und-Du ist also nicht verallgemeinerbar.

Beispiel C: Serienmörder

Hier möchte ich als konkretes Beispiel den Fall des David Parker Ray anführen. Dieser im US-Bundesstaat New Mexico zur Welt gekommene Serienmörder und Sexualstraftäter beging im Laufe seines Lebens fast unzählige Verbrechen (vgl. Benecke 2015, Kap. 9). Seine Methode war es seine sexuellen sadistischen Fantasien an Frauen auszuleben, die er, teilweise mit Hilfe seiner Tochter oder wechselnden Lebensgefährtinnen, entführte und in einen eigens dafür eingerichteten Wohnwagen brachte, wo er sie fesselte und über Tage, manchmal Monate unter Drogen setzte, folterte und vergewaltigte (vgl. Benecke 2015, Kap. 9). Dabei war es vor allem die Hilflosigkeit der Frauen, die ihn sexuell erregte, indem er sie fesselte, ihnen die Augen verband und sie knebelte (vgl. Benecke 2015, Kap. 9). Als psychopathischer Sadist fiel es ihm leicht die Menschen in seiner Umgebung zu manipulieren und so zu Komplizen zu machen oder seine Opfer auch dazu zu bringen, freiwillig mit ihm mitzugehen, ehe sie wussten, was genau ihnen bevorstand (vgl. Benecke 2015, Kap. 9). Nachdem er seine Opfer wie Objekte zu seiner Befriedigung missbraucht hatte, setzte er sie entweder unter Drogen und redete ihnen ein, alles seie nur ein Traum gewesen um sie dann irgendwo abzuladen, oder er tötete sie und befüllte ihre Körper mit Steinen um sie im nahegelegenen See zu versenken (vgl. Benecke 2015, Kap. 9). Nachdem eines der Opfer durch eine Unachtsamkeit seiner damaligen Komplizin und Lebensgefährtin fliehen konnte und dabei einem Zivilpolizisten in die Arme lief, wurden seine Taten zur Anklage gebracht und er wurde zu 224 Jahren Haftstrafe verurteilt, während derer er im Jahre 2002 an einem Herzinfarkt verstarb (vgl. Benecke 2015, Kap. 9). David Parker Ray stand während seiner Kindheit selbst unter dem Einfluss einer instabilen und gewalttätigen Beziehung zu seinen Eltern und führte einen durch ständige Umzüge, Rastlosigkeit, mehrere gescheiterte Ehen und Karrieren geprägten Lebensstil (vgl. Benecke 2015, Kap. 9). 

Im Vergleich zu den vorherigen Beispielen zeichnen sich Fälle wie dieser vor allem dadurch aus, dass es hier mehrere Opfer eines einzelnen Täters gibt. Sicherlich hat jedes individuelle Opfer einen Bezug zum Täter und muss sich die Verzeihensfrage auch individuell stellen. Worauf ich aber hier abziele ist die Überschreitung des Ich-und-Du in ein Wir-und-Du. In das Wir gehören die überlebenden Opfer und die Hinterbliebenen der getöteten Frauen, sowie die Gesellschaft als Ganzes, die sich fragen muss, wie mit solchen Taten umgegangen werden soll und zwar unabhängig der Rechtssprechung. Die durch Ray zugefügten Qualen entbehren in ihrer Grausamkeit jeglicher Vorstellungskraft. Sie schädigen nicht nur die Würde und das Leben der Betroffenen, sie degradieren sie zu einer reinen Objekthaftigkeit, die hier viel stärker in den Fokus rückt. Den Opfern wurde das Mensch-Sein völlig abgesprochen und zwar nicht nur durch die Taten an sich, sondern auch als gezielt von Ray eingesetztes Mittel um seine Opfer zu erniedrigen, indem er ihnen ausführlich erklärte, was er mit ihnen plant und er sie nicht als Menschen, sondern als Gegenstände betrachtet, die er zwangsläufig am Leben halten muss um seine Befriedigung zu finden (vgl. Benecke 2015, Kap. 9).

Bei Fällen wie diesen wird häufig die Frage nach der Kindheit des Täters gestellt um eine Erklärung für sein Handeln zu finden. Dabei stellt sich die Frage, ob eine von Gewalt und Vernachlässigung geprägte Kindheit solche Taten nicht nur erklärt, sondern auch rechtfertigt. Und ob die daraus gewonnen Erkenntnisse unser Verzeihen vereinfachen. Dabei möchte ich mich hier ganz klar auf das kollektive Verzeihen konzentrieren. Also jenes Verzeihen, dass wir als Gesellschaft einem Menschen wie diesem entgegen bringen können oder wollen. Sind solche Taten schwer verzeihlich oder absolut unverzeihlich? Aus dem Wissen über Rays Kindheit und den aus dieser Arbeit gewonnen Erkenntnissen können wir zumindest sagen, dass es Faktoren gibt, die sein Handeln erklären. Entschuldigen diese es auch? Eindeutig ist, dass Ray an einer ausgeprägten psychischen Störung gelitten hat, die dazu führte, dass ihm Empathie und Mitgefühl nicht möglich waren und er durch herkömmliche Handlungen keine sexuelle Befriedigung erlangen konnte, weswegen er zu immer drastischeren Mitteln griff. Das heißt wir haben eine Erklärung dafür, wie seine Störung und damit auch sein Verhalten zu Stande gekommen ist. Wenn der Mensch durch sein Handeln zu dem wird was er ist, wie zuvor gezeigt, dann bedeutete dies, dass Ray nichts anderes ist, als das was er tut. Und die Wiederholung seiner Handlungen zeigt auch, dass wir sie als festen Bestandteil seiner Persönlichkeit attestieren können. Er zeigt weiterhin keine Reue oder Schuldeinsicht (vgl. Benecke 2015, Kap. 9). Demnach würden wir intuitiv sagen, sein Handeln sei unverzeihlich, eben weil es ihn als Menschen ausmacht. Gleichzeitig wissen wir aber, dass er durch seine eigene traumatische Kindheit kaum eine Chance hatte ein gesundes Verhältnis und einen „normalen“ Umgang zu anderen Menschen zu entwickeln. Dahingehend würden wir sagen ist er zumindest für diesen Teil nicht verantwortlich und damit entschuldigt. Wir würden uns nachsichtig zeigen. Da die von ihm begangenen Taten aber nicht nur strafrechtlich relevant sind, sondern auch eine massive Überschreitung der grundlegenden moralischen Gesetze und der Menschenwürde darstellen, bleibt uns nichts anderes übrig als grollen. Denn wir hätten auch selbst Opfer werden können. Die genaue Zahl seiner Opfer ist nicht geklärt, aber aus den Ausführungen von Benecke lässt sich herauslesen, dass die Chance selbst ein Opfer von Rays Taten zu werden in den 1990er Jahren rund um den Ort Elephant Butt ziemlich hoch gewesen sein muss (vgl. Benecke 2015, Kap. 9). Wir grollen ihm, weil wir nicht in einer Gesellschaft leben wollen, die solches Verhalten legitimiert. Wie in Teil I erwähnt, wollen wir darauf vertrauen uns sicher in der Welt bewegen zu können, ohne die stetige Angst Opfer eines solchen Verbrechens zu werden. Diese Angst sitzt also viel tiefer als in den Beispielen A und B, weil es eben das Ich-und-Du überschreitet. 

Zurück zur Frage. Können wir David Parker Ray dafür verzeihen, dass er unzählige Frauen entführt, gefoltert, vergewaltigt und teilweise auch getötet hat? Weil er krank war und damit vielleicht für seine Taten nicht vollständig verantwortlich ist? Wenn wir ihm verzeihen um unsere eigenen reaktionären Gefühle loszuwerden und unsere Ressentiments aufzugeben, dann können wir das nur unabhängig unseres persönlichen Verhältnisses ihm gegenüber tun. Denn ein solches Verhältnis besteht nicht. Ray hat durch sein Handeln auch die Gesellschaft als Ganzes angegriffen. Es besteht für jene, die nicht Hinterbliebene der Opfer oder selbst Opfer sind, keine direkte Beziehung zu ihm. Er reut seine Taten nicht. Aufgrund seiner Krankheit und der Tatsache, dass er mittlerweile tot ist, besteht keine Aussicht auf Verhaltensänderung. Seine Taten sind so grausam, dass sie wohl ohne Zweifel als schwer verzeihlich gelten können. Als Gesellschaft sind wir sekundär Geschädigte. Die Opfer und die Hinterbliebenen der Opfer wären in der Position ihm verzeihen zu können, wenn man sagt, dass nur jene Verzeihen gewähren können, die direkt betroffen sind. 

Auch hier wird wieder klar, dass es nur wenige klare Antwort auf diese Frage gibt. Die Unverallgemeinerbarkeit des Verzeihens lässt sich auch hier wieder feststellen. Es gibt die jeweilige Perspektive der Opfer, die der Hinterbliebenen und die der Gesellschaft als Ganzes. Der Täter bereut seine Tat nicht, würde sein Verhalten nicht ändern, wäre er noch lebendig – schlicht und ergreifend weil er es auf Grund seiner Erkrankung nicht kann – und im Tode gibt es ohnehin keine Aussicht auf Verhaltensänderung. Das heißt, wenn hier verziehen wird, dann nicht um dem Täter die Chance zu geben sich zu reformieren, sondern als therapeutisches Mittel um mit dem erlebten Umzugehen und die eigenen Gefühle einzuordnen. Die Intention für Verzeihen ist hier also eine andere als bei den zuvor gezeigten Beispielen.

Beispiel D: Holocaust

Der Holocaust, die systematische Ermordung von sechs Millionen Juden nebst unzähligen anderen, von den Nazis verachteten Minderheiten wie Slawen, Sinti, Roma, Homosexuellen und den Widerstandskämpfern, gilt als das größte Menschheitsverbrechen. Angeführt von den Nazis, gilt es als Verbrechen eines ganzen Volkes aus Menschen, die das Unsägliche entweder stillschweigend hingenommen, oder partizipiert haben, indem sie die Vernichtung verwalteten oder anderweitig in die Vernichtungsmaschinerie eingeflochten waren (Jankélévitch 2003, S. 266). Die Zahl der Opfer aus den Vernichtungslagern ist schon gigantisch; rechnet man die unzähligen Kriegstoten noch hinzu ergibt sich eine unvorstellbar große Zahl an Opfern, welche die Nazis zu verantworten haben. Können wir ein solches Verbrechen verzeihen? 

Jankélévitch wird nicht müde die Sonderstellung der Verbrechen in Auschwitz darzustellen. Die deutschen Verbrechen sind nicht nur Verbrechen gegen die Menschlichkeit; sie sind Verbrechen gegen das menschliche Sein an Sich (Jankélévitch 2003, S. 246). Die Nazis haben mit den Juden keine ideologischen Gegner ausgelöscht, sondern sich gegen die bloße Existenz der Juden an sich gerichtet (Jankélévitch 2003, S. 247). Damit gibt es nicht einmal niedere Beweggründe für das deutsche Verbrechen; für Jankélévitch ist es metaphysischer Form (Jankélévitch 2003, S. 249-250). Und je mehr man diese Verbrechen analysiert und ihre versteckten Gräuel ans Tageslicht kommen, desto maßloser erscheinen sie (Jankélévitch 2003, S. 253). Für ihn sind die Naziverbrechen „unsühnbar“, weil sie in keinerlei Verhältnis zu irgendwelchen anderen Verbrechen stehen und es keine Bestrafung gibt, die dazu in einem angemessenen Verhältnis steht (Jankélévitch 2003, S. 253). Denn es ist nicht nur die reine Zahl der Opfer, sondern auch die Art und Weise, wie sie zu Tode gekommen sind. Es ist das qualitative Ausmaß der Vernichtung. Wo man die Haare der toten Frauen sammelt, Kindern giftige Injektionen direkt ins Herz verabreicht und aus den Häuten der Toten Lampenschirme macht, da werden die Opfer nicht nur ihres Menschseins beraubt; sie werden zu Rohstoffen objektifiziert (Jankélévitch 2003, S. 244, 248, 267). Auschwitz ist kein Kriegsgräuel wie die unzähligen Verwundeten auf den Schlachtfeldern oder der Blitzkrieg, sondern ein Werk des Hasses (Jankélévitch 2003, S. 259). Würde man das, was den Juden passiert ist mit anderen Verbrechen vergleichen, suggeriert man damit den Juden seie etwas Gewöhnliches passiert (Jankélévitch 2003, S. 261). Aber Auschwitz kann nicht entschuldigt werden. Es ist unnötig zu fragen, wie man die Schuldigen von Auschwitz reinwäscht oder wie die Henker entschuldigt werden können (Jankélévitch 2003, S. 262). Die Vernichtung der Juden folgte einem pedantischen Plan und wurde systematisch und methodisch durchgeführt (Jankélévitch 2003, S. 265). Der Tod unzähliger Unschuldiger wurde nicht nur billigend in Kauf genommen. Er war das Ziel der ganzen Unternehmung. Die Frage ist dabei, wen man überhaupt anklagen soll, wenn sich die Schuld auf ein ganzes Volk richtet. Wie kann Verzeihen als Akt, der von einem Opfer auf einen Täter gerichtet ist, bei einem Verbrechen diesen Ausmaßes überhaupt möglich sein? Es muss ein expliziter Täter gefunden werden, denn wenn alle schuldig sind ist niemand schuldig und man entschuldigt Verbrechen nicht dadurch, dass jemand anders sie hätte auch begehen können (Jankélévitch 2003, S. 262). Auschwitz und der Holocaust entbehren jeglicher formaler Analyse. Es gibt nicht die Schuld eines Einzelnen, wenn Millionen von Deutschen bereitwillig mitgewirkt haben. Es gibt keine Beziehung zwischen Täter und Opfer. Auf wen sollen sich Ressentiments und reaktionäre Gefühle richten? Auf den Nachbarn, der die befreundeten Juden an die Nazis verraten hat? An den Lokführer, der die Deportierten in die Vernichtungslager bringt? An den Sekretär, der die Vernichtung verwaltet? An die deutschen Soldaten, die Waffen-SS, Mengele, Bormann, Eichmann oder Hitler selbst? Betrachten wir das Ereignis Holocaust im Ganzen, so lässt sich keine Theorie des Verzeihens darauf anwenden, weil wir keinen Täter, sondern ein Täterkollektiv, einen Komplex aus weit verschachtelten organisatorisch abhängigen Einheiten haben. Es wäre möglich, dem Nachbarn, der einen an die Nazis verraten hat zu verzeihen. Aber die Ermordeten der Naziverbrechen leben nicht mehr. Sie selbst können nicht mehr verzeihen. Und viele der Nazis leben auch nicht mehr. Also müssen sich, ähnlich wie in Beispiel C, die überlebenden Opfer, die Hinterbliebenen und die Gesellschaft als Ganzes die Verzeihensfrage stellen, allen voran die Juden. Aber im Unterschied zu Beispiel C gibt es hier nicht einen einzelnen Täter. Intuitiv müsste es also eine Einstimmigkeit all jener, die primär oder sekundär von den Naziverbrechen betroffen sind, geben, wie mit der Verzeihensfrage umzugehen ist. Ein unmögliches Unterfangen. Wenn Eva Kor Mengele vergibt, um sich selbst nicht mehr als Opfer zu fühlen, dann verfolgt sie damit einen persönlichen Zweck (vgl. „Forgiving Dr. Mengele, Hercules, Pugh, USA 2006). Es geht ihr nicht um den Verzicht auf Ressentiments aus moralischen Gründen oder das Überwinden von reaktionären Gefühlen, sondern eher um die Art und Weise wie sie als Individuum zu den Gräuel steht, die ihr persönlich angetan wurden. Der Grund ihres Verzeihens ist der, aus der Machtlosigkeit herauszufinden. Für Jankélévitch ist ganz klar: es ist das Vorrecht der Opfer zu verzeihen und nicht der Hinterbliebenen (Jankélévitch 2003, S. 275). Damit fallen all jene, die in einem Fall wie im Beispiel C noch des Verzeihens in Frage gekommen sind hier heraus. Die Täter haben damit kein Recht sich über das fehlende Verzeihen der Hinterbliebenen zu beklagen. Denn wer aus Prinzip Millionen von Menschen abschlachtet muss wohl damit leben, dass die Hinterbliebenen eine ganze Zeit lang sehr ungehalten über diese Tatsache sind (Jankélévitch 2003, S. 276). 

Für Jankélévitch ist der Holocaust unverzeihlich. Die den Tätern entgegengebrachten Ressentiments sind ihm sogar wichtig, sollen sie doch eine moralische Amnestie verhindern (Jankélévitch 2003, S. 281). Der Fall Auschwitz, beziehungsweise des Holocaust, muss jegliche Gründe für das Verzeihen, die sich auf die Täter richten, ausschließen. Der Zweck eines Verzeihens in diesem Fall, darf niemals die Täter, deren Reformation oder Reflexion im Blick haben. Verzeihen kann hier, da stimme ich Jankélévitch zu, nur von den Opfern, nicht von den Hinterbliebenen und schon gar nicht von den Deutschen, also den Nachfahren der Nazis, ausgehen. Die Unverallgemeinerbarkeit des Verzeihens zeigt sich hier in dem schieren Ausmaß des Verbrechens. In der Systematik, der ausgetüftelten Methodik, der Menge der Opfer und Täter, der kollektiven Schuld, der Objektifizierung der Opfer und der planmäßigen, schulhaften Umsetzung eines unvergleichlichen Massenmordes. Verzeihen wir dem Lokführer für seine Partizipation, warum dann nicht auch dem SS-Offizier oder gar Hitler selbst? Die Abwägung der individuellen Taten einzelner mit dem Grade ihrer Partizipation hat bei den Ausmaßen dieses Falls einen Moment eines zwanghaften Wahns eine Handlungsmöglichkeit zu finden.

 

Ergebnisse

Wir haben gesehen, dass Verzeihen ein intersubjektiver Akt ist, der im Sinne eines Geistes der Verzeihung dann Anwendung findet, wenn die Beziehung zweier Subjekte durch Schuld belastet ist. Ein Geist der Verzeihung soll dabei die in der menschlichen Existenz verankerte Sphäre der Möglichkeit des Verzeihens sein, die obligatorisch ist, während es der individuelle Akt des Verzeihens nicht ist. Die Beziehung ist durch einen schuldhaften Akt belastet, der moralisch verantwortlich und frei von Zwang ist, das heißt, der Schädigende hat nicht unter dem Einfluss äußerer Umstände gehandelt und konnte die Konsequenzen seines Handelns, so weit es geht, absehen. An den Beispielen C und D haben wir jedoch gesehen, dass es keine direkte Beziehung zwischen dem Schädigenden und dem Geschädigten geben muss. Die menschliche Existenz allein reicht schon aus um durch die Taten anderer geschädigt zu werden. Wir leben grundsätzlich in dem Vertrauen, dass uns andere Menschen keinen Schaden zufügen und unsere Würde achten, so wie wir auch ihre achten. Aber da wir als Menschen nur eine begrenzte Wissensreichweite haben und wir uns nur schwer jeglichen Handelns, das zu Verletzungen führen könnte, enthalten können, wird es unweigerlich zu Verletzungen durch uns kommen, so wie es auch unweigerlich zu Verletzungen an uns selbst durch andere kommt. Wir brauchen daher den Geist der Verzeihung um unserer Existenz die Möglichkeit zu geben, sich bei Bedarf zu reformieren. Wir wollen uns gegenseitig die Möglichkeit geben uns voreinander zu beweisen und zu zeigen, dass wir mehr sind als ein einzelner verfehlter Akt. Die Tat soll kein zentraler Bestandteil der Person sein. Aber wir haben auch gesehen, dass wir als Menschen durch unser Handeln zu dem werden was wir sind. Die Reflexion im Gegenüber konstituiert unser Selbst. Wiederholen wir eine verachtenswerte Tat, dann wird sie als Charakterzug in unser Selbst eingeschrieben und es fällt schwerer zu verzeihen, weil es schwieriger wird zu erwarten, dass die Tat nicht wieder geschieht. Wir wollen dem Schädigenden für die Tat verzeihen und ihm damit die Möglichkeit geben uns zu zeigen, dass er sich selbst von dieser distanziert. Der eindeutigste Weg dies zu tun ist die Reue. Wiederholung einer Tat zeugt von Uneinsichtigkeit und damit von fehlender Reue. Wenn wir dann verziehen haben, soll die Tat damit nicht gutgeheißen werden. Sie ist weiter verachtenswert. Denn das Verzeihen ist das Heilmittel gegen die Unwiderruflichkeit des Handelns. Eine einst begangene Tat kann nicht ungeschehen gemacht werden und wir verzeihen uns um zu zeigen, dass die Tat in der Bewertung einer Person keine Rolle mehr spielt. Wurden wir verletzt grollen wir dem Schädigenden und unsere Gefühle ihm gegenüber verändern sich. Dieser Groll ist nötig um uns selbst zu zeigen, dass wir unsere eigene Würde ausreichend achten um die Verletzung als solche zu erkennen. Mit dem Verzeihen verzichten wir aus moralischen Gründen auf diesen Groll und auf Vergeltung. Solange wir grollen, können wir nicht verzeihen. Somit ändert das Verzeihen unsere Sicht auf den Täter. Im Gegenzug dazu verändern Entschuldigung, Rechtfertigung und Nachsicht unsere Sicht auf die Tat selbst insofern, dass wir sie anders bewerten und vielleicht keinen Grund haben uns angegriffen zu fühlen, weil der Schädigende die Folgen seines Handelns nicht absehen konnte oder äußere Einflüsse dazu geführt haben. Schuld selbst erzeugt eine Asymmetrie zwischen den Subjekten. Ist nun der eine auf das Verzeihen des anderen angewiesen, verschiebt sich diese Asymmetrie insofern nun der Schädigende unter dem Geschädigten steht. Wir verzeihen um diese Symmetrie wieder herzustellen, die moralische Schuld aufzuheben und unsere Gefühle dem Schädigenden gegenüber einer Revision zu unterziehen. Damit hebt das Verzeihen diese Gefühle, den Groll und die Schuld wieder auf und stellt die Symmetrie zwischen den Subjekten wieder her. In diesem Sinne haben wir damit die Grundpfeiler für eine philosophische Theorie des Verzeihens, von der wir fordern, sie solle verallgemeinerbar sein und unabhängig von einer Unterteilung in Gut und Böse Gültigkeit haben. 

Anhand der analysierten Beispiele haben wir jedoch gesehen, dass diese Verallgemeinerbarkeit nicht immer anwendbar ist. Jene, die uns am nächsten sind können uns am leichtesten verletzen, aber weil unsere Beziehungen zu diesen Menschen am intensivsten sind, verzeihen wir ihnen auch am leichtesten, weil wir die Beziehung aufrecht erhalten wollen. Da wir Beziehungen zu verschiedenen Menschen unterschiedlich bewerten ist damit auch unsere Bewertung der Tat nicht unparteiisch. Unsere Gefühle spielen dabei eine nicht zu unterschätzende Rolle. Und wie wir gesehen haben muss auch nicht immer eine Beziehung zum Schädigenden bestehen um uns verletzt zu fühlen. Das zeigt, dass die Form der Beziehung, die Schwere und Häufigkeit der Tat und die erlebte Verletzung Faktoren sind, die unsere Bewertung der Tat und damit auch unsere Tendenz zu Verzeihen beeinflussen. Ebenso die Schuldeinsicht und Reue des Schädigenden. Wir haben gesehen, dass wir an unsere Grenzen geraten, wenn eine Tat immer wieder begangen wird. Daraus haben wir abgeleitet, dass eine Tat alltäglich sein muss, damit wir sie bei Wiederholung dennoch verzeihen. Je alltäglicher eine Tat ist, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass wir sie selbst begehen und desto leichter ist sie zu verzeihen. Je aussergewöhnlicher eine Tat ist, desto schwerer ist sie zu verzeihen, weil die Chance sie selbst zu begehen sinkt. Damit fehlt uns auch die Erfahrung mit Verletzungen dieser Form umzugehen. Auch haben wir gezeigt, dass das Warten auf die Reue des Schädigenden nicht vereinbar ist mit dem Wunsch, die eigenen Wunden zu heilen, weil wir manchmal auch Taten verzeihen, die der Schädigende nicht bereut. Gleichzeitig käme es der Rache gleich, ließen wir den anderen durch unseren Groll ewig leiden. Die einzige echte Alternative zum Verzeihen ist nicht die Rache, sondern die Strafe, suchen doch Verzeihen und Strafe beide danach, einen Zirkel zu durchbrechen, der sonst ewig weitergehen würde (Arendt 2015, S. 307). 

Die Analyse der Beispiele hat uns gezeigt, dass es sich um verschiedene Formen des Verzeihens handelt, wenn wir uns in verschiedenen Situationen befinden. Beispiel A legt den Fokus des Verzeihens eher auf die Verhaltensänderung des Täters im Zuge einer Beziehungspflege. Das Beispiel hat aber auch gezeigt, dass unsere Geduld Grenzen hat und wir bei ständiger Wiederholung einer Tat mehr und mehr abgeneigt sind zu verzeihen. Die Bewertung der Tat beeinflusst den Stellenwert der Beziehung. Das zeigt sich auch in Beispiel B. Bei beiden Beispielen ist ebenfalls wichtig, ob wir von der Tat durch den Schädigenden selbst oder über Umwege erfahren haben. Beispiel A und B legen einen anderen Fokus auf das Verzeihen, als die Beispiele C und D. Während es bei erstgenannten mehr um den Beziehungsaspekt und die Reformierung des Schädigenden geht, stehen bei letztgenannten die Gefühle der Geschädigten und deren Umgang mit der Tat im Vordergrund. Speziell beim Holocaust dürfen nicht die Täter im Fokus stehen. Der den Tätern entgegengebrachte Groll soll eine mögliche moralische Amnestie verhindern. Auch haben wir mehrfach gesehen, dass nur die Geschädigten selbst Verzeihen können, denn sie sind es, denen die Gräuel angetan wurden. Dennoch sind wir in Fällen, wie dem des Holocaust, als Gesellschaft sekundär Mitgeschädigte, weil allgemeine moralische Gesetze, denen wir uns gemeinsam verschrieben haben und die wir kollektiv achten wollen, verletzt wurden. Also steht auch in Frage, wie wir als Gesellschaft mit solchen Taten umgehen. Die Art dieses Umgangs ist allerdings mit jener aus den Beispielen A und B – welche das Ich-und-Du betreffen, während die Beispiele C und D darüber hinausgehen – nicht vergleichbar. Der Fokus ist ein anderer, die Schwere der Taten ist nicht vergleichbar, Reue und Schuldeinsicht sind nicht immer vorausgesetzt. Wir müssen uns auch mit Fällen auseinandersetzen, in denen Reue und Schuldeinsicht fehlen, wir aber dennoch verzeihen wollen um unseren eigenen Gefühlen die Möglichkeit einer Heilung zu geben. Und was ist, wenn wir nicht wissen wem wir verzeihen sollen? Weil der Täter nicht mehr lebt, wie in Beispiel C oder weil es so viele Täter gibt, dass wir die Verletzungen nicht an einer einzelnen Person festmachen können wie in Beispiel D. Der Komplex aus symmetrischer Beziehung, Schuld, Asymmetrie, Ressentiments und reaktionären Gefühlen, welcher zum Verzeihen führt ist so auf Serienmörder oder den Holocaust nicht übertragbar. Wir müssen uns also auf andere Bewertungsmaßstäbe konzentrieren um zu sehen, wie Verzeihen hier stattfinden kann. Das alles zeigt, wie unterschiedlich Situationen sein können, in denen Verzeihen stattfinden kann. Und, dass die Frage ob und wie wir verzeihen nicht von einer auf eine andere Situation übertragbar ist. Das Verzeihen ist nicht verallgemeinerbar.

Es ist klar, dass eine philosophische Theorie des Verzeihens ein idealisiertes Konstrukt ist, so wie Experimente im Labor unter Idealbedingungen stattfinden, die so in der Natur nicht anzutreffen sind. Die praktische Umsetzung als Ableitung dieser Theorie gestaltet sich schwierig. Soll eine Theorie des Verzeihens uns einen Maßstab dafür geben, wie wir in Situationen, in denen wir verzeihen wollen, konkret handeln können? Ein Maßstab gäbe uns durch die inhärente Vergleichbarkeit aber nicht nur Handlungsvorschläge, sondern auch Handlungsimplikationen. Damit könnten wir Verzeihen fordern und es obligatorisch machen. Denn wenn Person A in einer Situation verzeiht, in der Person B nicht verzeihen würde, aus welchen Gründen auch immer – und wie wir gesehen haben sind solche Gründe zahlreich – dann könnten wir Person B vorwerfen, sie hätte nicht verziehen, wo es angemessen gewesen wäre, denn es gäbe einen allgemeinen Maßstab, nach dem wir uns richten können und nach dem wir das Verzeihen allgemeingültig bewerten. Wir könnten Verzeihen einfordern. Damit wäre die Bedeutung des Aktes als freiwillige Handlungsoption zunichte gemacht.

Es gibt keinen Maßstab für Verzeihen und vielleicht ist uns das in einer modernen Welt, in der es für alles Regeln und Maßstäbe gibt, als eine der wenigen kognitiven Herausforderungen geblieben, die uns damit zu freien Menschen macht. Ob und wie man verzeiht lässt sich nicht verallgemeinert formulieren, und darf auch in keinem Buch als explizite Anweisung nachzulesen sein.

 

Literaturverzeichnis

Allais, Lucy (2008). Wiping the slate clean: The Heart of Forgiveness.Philosophy & Public Affairs Volume 36, Issue 1, Winter 2008, Seiten 33-68

 

Arendt, Hannah (2015). Vita activa oder Vom tätigen Leben.(15. Auflage). München: Piper Verlag GmbH

 

Benecke, Lydia (2015). Sadisten – Tödliche Liebe – Geschichten aus dem wahren Leben. Köln: Bastei Lübbe AG

 

Jankélévitch, Vladimir (2003). Verzeihen? In:Das Verzeihen – Essays zur Moral und Kulturphilosophie.Frankfurt am Main: Suhrkamp

 

Knoepffler, Nikolaus (2013). Handlungsreflexion: Alan Gewirth.In: Gröschner, Rolf, Kapust, Antje, Lembcke, Oliver W. (Hg.).Wörterbuch der Würde.München: Wilhelm Fink GmbH & Co. Verlags-KG

 

Kodalle, Klaus-Michael (2006). Annäherung an eine Theorie des Verzeihens. Mainz: Akademie der Wissenschaften und der Literatur

 

Kodalle, Klaus-Michael (2013). Vergebung/Verzeihung. In: Gröschner, Rolf, Kapust, Antje, Lembcke, Oliver W. (Hg.).Wörterbuch der Würde.München: Wilhelm Fink GmbH & Co. Verlags-KG

 

Murphy, Jeffrie (1988). Forgiveness and resentment. In: Murphy, Jeffrie, Hampton, Jean. Forgiveness and Mercy.Cambridge: University Press 

 

Popper, Karl R. (2015). Das Ich. In: Miller, David (Hg.). Karl Popper Lesebuch. Tübingen: Mohr Siebeck UTB