System

eine Kurzgeschichte

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Als ich aufwachte waren meine Augenlider verklebt und ich musste mit meinen Fingern nachhelfen um sie öffnen. Es ging mir gar nicht gut. Mir war schwindelig und es war schwer zu denken. Erst versuchte ich so schnell wie möglich wach zu werden, um es durch unnötiges Herumliegen nicht noch weiter zu erschweren. Aber dann musste ich mich fragen, warum ich überhaupt aufstehen sollte. Hatte ich irgendeine Verabredung?

Ich quälte mich übermüdet und mit steifen Gliedern von der harten Unterlage hoch und setzte mich an die Bettkante. Nach zwei tiefen Atemzügen musste ich mich plötzlich übergeben. Das schien die Situation glücklicherweise doch etwas besser zu machen. Meine Sicht wurde etwas klarer und langsam hatte ich das Gefühl, als ob auch mein restliches System endlich zu arbeiten anfing. Meine Gelenke fühlten sich geschmeidiger an. Ich konnte besser denken und die Orientierung kam zurück. Ich saß auf einem Bett, dem eines Krankenhauses ähnlich, in einem grünen Raum. Der Fußboden und etwa die halbe Höhe der Wände waren weiß gefliest. Auf dem Boden an den Wänden entlang, waren Gitter eingelassen. In eines davon floß gerade mein Erbrochenes. Ich konnte mich überhaupt nicht daran erinnern, wie ich hierher gekommen war, hatte aber trotzdem das Gefühl hier hin unterwegs gewesen zu sein. Obwohl ich keine Ahnung hatte, wo ich mich befand, kam es mir trotzdem so vor, als ob ich mich hier schon früher einmal aufgehalten hatte.

Der Raum war nur schwach beleuchtet. Die Leuchtstoffröhren an der Decke funktionierten nur teilweise. Eine flackerte in unregelmäßigem Rhythmus. Die Luft und der Boden waren feucht. An manchen Stellen bildeten sich kleine Pfützen. Es war dreckig und stank nach Fäkalien. Und laut war es auch. Aus dem Hintergrund war ein beständiges Dröhnen, mit einem untergemischten Jammern zu hören.

Vorsichtig stand ich auf. Meine Füße waren nackt. Ich trug eine abgerissene weiße Stoffhose und ein viel zu großes weißes Shirt. Beides war dreckig und stellenweise gelblich verfärbt, so als wäre die Kleidung bereits von mehreren Leuten über einen Zeitraum von Jahren getragen worden. Sonst hatte ich nichts an mir.

An der Wand links war ein Durchgang, der auf einen Flur führte. Dort stand der Boxer. Ein Mann mittleren Alters, klein aber muskulös. Er war genauso gekleidet wie ich. Ich kannte ihn, wusste aber nicht mehr woher. Eine vertraute Person zu sehen tat in diesem Moment gut. Der Boxer sah mich etwas später als ich ihn und er schien mich ebenfalls zu erkennen. Er sah immer wieder den Flur hinauf und spielte nervös an seinen Fingernägeln. Mit einer Kopfbewegung deutete er in jene Richtung des Flurs, wollte aber selber nicht genau hinsehen. Dort war ein weiterer, deutlich größerer Raum, als der in dem ich aufgewacht war. Im Eingang saßen zwei weitere Personen. Ein paar Schritte in den Raum hinein wiederum weitere. Sie saßen nur da, wirkten aber sichtlich unruhig. Einige nestelten an sich herum oder suchten etwas auf dem dreckigen Boden. Auch sie trugen weiße dreckige Hosen und Shirts. Das Jammern schien ebenfalls von dort zu kommen. Ich sah den Boxer an, der bedeutete mir zu Folgen.

 

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Wir gingen den Flur entlang, bis zu dem großen Raum. Die Personen in der Tür schenkten uns keine Beachtung. In der Mitte des großen Raumes lagen unzählige weitere Personen, teilweise neben- aber auch übereinander. Aus der Mitte der Decke ragte ein gewaltiges Bündel milchig-transparenter Schläuche, derer Zahl nicht zu ermitteln war. Jeder einzelne dieser Schläuche endete im Mund einer der Personen im Raum. Einige hielten den Schlauch in ihrem Gesicht fest, andere spielten daran herum, manche lagen nur rücklings auf dem Boden und griffen andauernd in die Luft nach etwas, das nicht da war. Der Boxer musste seinen Blick immer wieder abwenden. Um den Haufen von Menschen hatte sich ein gewaltige Pfütze aus Urin gebildet. Es stank entsetzlich.

Bei einer Person, die ich im Augenwinkel bemerkt hatte, löste sich der Schlauch und sie wurde sofort bewusstlos. Der Schlauch schwang kurz in der Luft und wurde dann durch einen Mechanismus zur Deckenmitte gezogen. Ich griff danach um ihn näher zu betrachten. Er war so fest wie flexibel. Am Ende befand sich ein Mundstück, das anscheinend zwischen Lippen und Zähnen getragen wurde, während einige Zentimeter des Schlauchs noch in die Mundhöhle ragten. An einer Seite hinter dem Mundstück befand sich ein kleiner blauer leuchtender Knopf. Ich drückte darauf und aus dem Mundstück fuhr rasch ein Draht aus, dessen Ende eine kleine Platte formte. Ich sah den Boxer verständnislos an und er fasste sich kurz an seine Nase und warf dann den Kopf nach hinten. Dann fasste mich etwas am Bein. Eine der Personen, die vorhin noch in der Tür gesessen hatte, zerrte an meiner Hose und griff nach dem Schlauch. Als ich diesen nicht sofort überreichte begann die Person auf mich einzuschlagen und zu schreien. Erschrocken ließ ich los und ging einen Schritt nach hinten. Die Person mühte sich ab aufzustehen, nahm den Schlauch und setzte sich das Mundstück ein. Auch der Knopf wurde betätigt. Sie drehte ihre Augen nach hinten und sank langsam auf den Boden. Ich ging zurück zum Boxer und sah mich noch einmal nach der Person um, die ich zuvor wohl um ihren Schlauch betrogen hatte. Aber sie war in der Menge nicht mehr zu identifizieren. Dann fiel mein Blick auf die Mitte des Menschenbergs. An dessen Spitze saßen Wesen, die aussahen wie Menschen und doch Geistern gleich blaß und abgemagert dort hockten, ebenfalls mit Schläuchen im Mund. Ihre lichten langen Haare schwebten wie Spinnweben durch ihre fahlen, ausgezehrten Gesichter. Die weißen Shirts waren größtenteils zerrissen und hingen nur noch lose auf den mageren Brustkörben. Diese waren so groß, dass sie fast doppelt so viel Volumen aufbrachten, wie die eines gewöhnlichen Menschen. Der Rest ihrer Körper, Arme, Beine und die freiliegenden Genitalien, waren verkümmert und nicht mehr zu gebrauchen.

 

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Der Boxer führte mich durch die restlichen Räumlichkeiten der Installation. Er zeigte mir einen Sanitärraum. Es gab freistehende Toiletten, die dreckig und beschmiert waren, einige Waschbecken und zwei Duschen. Alles funktionierte, war aber so dreckig, dass es allein deswegen kaum zu benutzen war.

Der Boxer zeigte mir eine Art Schlafsaal, in dem dutzende Betten, wie das, in dem ich aufwachte, kreuz und quer verteilt waren. In einigen schliefen Menschen. Sauber war es auch hier nicht, aber wenigstens stank es nicht nach Urin.

Wir fanden noch einige kleinere Kammern, die entweder stapelweise Kleidung wie die unsere beherbergten, oder leer waren. In einer lag eine tote Person flach auf dem Boden. Eine schwere graue Stahltür in einer Ecke auf einem Seitenflur war verschlossen. Das ständige Dröhnen schien von dort zu kommen. Wir fanden auch ein paar Türen, die offensichtlich Notausgänge waren. Davon war keine verschlossen. Der Boxer schien nervös zu sein, als ich vorschlug eine davon zu öffnen. Er kauerte sich auf den Boden als ich es schließlich tat. Wir wurden von einem grellen weißen Licht geblendet an das wir uns einige Minuten gewöhnen mussten. Dann sahen wir hinaus und blickten auf einen gigantischen asphaltierten Parkplatz. Er wurde von unzähligen Straßenlaternen beleuchtet. Es war Nacht und das Licht, das uns blendete, kam von den Laternen. Egal in welche Richtung wir schauten; der Parkplatz schien nicht zu enden. Lediglich am Horizont in allen Richtungen waren entfernt und kaum wahrnehmbar bunte Lichter zu erkennen. Es schien dort etwas zu geben, aber barfuß und in unserem Zustand war es ausgeschlossen so weit zu laufen.

Ein lautes, schrilles Signal ertönte aus der Installation und wir erschraken. Wir gingen wieder hinein. Ich schlug vor in den Raum zurückzugehen, in dem ich wach geworden war. Auf dem Weg dorthin kamen wir am Schlafsaal vorbei, dessen Betten nun alle belegt waren. Der Raum mit den Schläuchen, an dessen Eingang wir jetzt erst die Beschriftung 'Arterium' sahen, war bis auf die geisterhaften Wesen in der Mitte leer. Sie waren die einzigen, die im flackernden Schein der Leuchtstoffröhren weiter an ihren Schläuchen hingen.

Dann erreichten wir den Raum, in dem ich aufgewacht war. Der Boxer zeigte mir daneben einen Raum gleicher Größe und Ausstattung, in dem er seinen Angaben nach wach geworden sei. Er ging hinein, legte sich auf das Bett, deutete auf mich und dann nach nebenan. Ich nickte ihm zu und ging in meinen Raum. Ich legte mich auf den Rücken und starrte an die Decke. Nach kurzer Zeit ging das Licht aus. Ich lag etwas da und dann fiel mir ein leichter Luftzug unter der Nase auf. Es gab tatsächlich Fenster. Sie waren vergittert. Wenn ich mich auf das Bett stellte, konnte ich aus einem sogar nach draussen sehen, aber die Aussicht war nicht anders als die aus dem Notausgang. Ich legte mich wieder hin und versuchte zu schlafen.

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Ich wurde mit knurrendem Magen wach. Das Licht war noch ausgeschaltet. Bis auf das ständige Dröhnen war nichts zu hören. Ich streckte mich und stellte mich dann wieder auf das Bett um aus dem Fenster zu schauen, aber es war so hell, dass ich nichts erkennen konnte. Dann schob sich von unten eine Abdeckung vor das Fenster und es war für einen Moment völlig dunkel, bis die Lichter wieder eingeschaltet wurden.

Ich ging auf den Flur, der Boxer stand schon dort. Auch er schien hungrig zu sein. Wir mussten etwas essen. Auf unserem Weg durch die Installation sahen wir wieder das Arterium, gefüllt mit Menschen an Schläuchen und den Gespenstern in der Mitte. Am Eingang warteten bereits weitere Personen. Es gab nicht genug Schläuche für alle, also mussten sie sich abwechseln. Der Schlafsaal war bis auf drei schlafende Personen leer. In den Sanitärräumen saßen ein paar auf der Toilette, ein nackter Mann stand unter der Dusche unter eiskaltem Wasser. Sauber wurde er nicht. Uns schien niemand zu bemerken. Alle gingen ihrem alltäglichen Werk nach und schenkten uns keine Beachtung. Es sei denn wir standen zwischen jemandem und seiner Ration Schlauch, aber sobald wir diesen übergaben, waren wir wieder wie unsichtbar.

Wir sahen uns in der Installation weiter um, konnten aber keine Lebensmittel finden. Es gab hier und da Wasserhähne, aus denen auch einigermaßen trinkbares Wasser kam, sonst aber nichts. Ich schlug dem Boxer vor aus einem der Notausgänge zu gehen und so lange geradeaus zu laufen, bis wir irgendwo ankamen, aber er deutete auf unsere knurrenden Mägen und nackten Füße. Ich wusste nicht, wie lange der Boxer nicht mehr gegessen hatte, aber bei mir war es zu diesem Zeitpunkt maximal einen Tag her. Das sollte beim Weg über den Parkplatz also nicht das Problem werden. Wir stahlen ein paar Shirts aus der Wäschekammer und banden sie um unsere Füße. Ein Letztes banden wir um unsere Augen, um vom gleißenden Licht nicht geblendet zu werden. Dann gingen wir raus. Selbst durch die Shirts an den Füßen spürten wir den aufgeheizten Asphalt. Auch die Luft war sehr heiß. So heiß, dass wir nach etwa einer halben Stunde Fußmarsch umkehren mussten, weil wir drohten zu verbrennen. Wieder in der Installation rissen wir uns alles vom Leib, was wir trugen und stellten uns eine ganze Weile unter die Duschen. Nachdem wir uns ausreichend abgekühlt hatten holten wir neue Kleider aus der Kammer und setzten uns in den Raum des Boxers um nachzudenken. Wir saßen nebeneinander auf dem Bett. Er spielte wieder nervös an seinen Fingernägeln. Niemand sagte etwas. Bei dem ständigen Dröhnen und dem Gejammer war es schwer sich zu konzentrieren und jeder aufkommende Gedanke schien abzureißen und dann für immer zu verschwinden. Das laute Signal, dass wir gehört hatten, als wir das erste Mal den Notausgang öffneten weckte uns aus unserer Trance. Barfüßige Schritte waren zu hören. Dann war es still. Scheinbar waren die Leute wieder ins Bett gegangen. Ohne etwas zu sagen stand ich auf, ging rüber in meinen Raum und legte mich hin. Nachdem ich schon lange eingeschlafen war kam der Boxer hinein und legte sich neben mich. Ich hörte ihn weinen. Irgendwann schlief er ein.

 

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Ich wurde wieder wach, kurz bevor das Licht anging. Der Boxer stand schon auf dem Flur. In der Installation herrschte das gleiche Treiben wie am Vortag. Wir entschlossen uns dazu den Tagesablauf etwas genauer zu untersuchen, also versuchten wir einer jungen Frau, die wir aus dem Schlafsaal kommen sahen, zu folgen. Sie ging als erstes in den Sanitärraum und blieb dort eine Weile. Wir schauten nicht nach, was genau sie dort tat. Als sie rauskam war sie nackt und schleppte sie sich zur Kleiderkammer, wo sie sich wieder anzog. Dann setzte sie sich auf den Boden im Flur und schlief etwa eine Stunde. Sie wurde wach, als sie sich eingenässt hatte. Sie zog ihre Hose aus, nahm sich eine neue und schleppte sich dann zum Arterium. Auf dem Weg dorthin kamen wir an der Kammer vorbei, in der vor ein paar Tagen noch jemand tot am Boden lag. Jetzt war dort niemand mehr. Im Arterium waren noch einige der Schläuche frei. Sie nahm einen davon, setzte sich das Mundstück ein, drückte auf den blauen Knopf und begann ihre Arme über ihrem Kopf, einem Tanz gleich, kreisen zu lassen. Nach einiger Zeit sank sie auf die Knie und der Tanz wurde immer schwächer, hörte aber nie ganz auf. Da wir keine Möglichkeit hatten die Uhrzeit zu erfassen, konnten wir nicht sagen wie lange, aber nach einigen Stunden stand sie wieder auf, erbrach sich und kroch dann auf allen Vieren aus dem Arterium auf den Flur. Ihr Schlauch wurde sofort von jemand anderem belegt. Die Frau lag auf dem Boden und es schien als hätte sie Schmerzen. Aber sobald wir nach ihr sehen wollten begann sie mit weit aufgerissenem Mund zu schreien, so dass wir wieder von ihr abließen. Nach kurzer Zeit stand sie auf und begann ziellos durch die Flure zu wandern. Bald taten uns die Füße weh, weil sie von dem nassen Boden aufgeweicht waren und wir der Frau die ganze Zeit folgten. Nach einer Zeit, die uns ebenso lang schien, wie jene, die sie am Schlauch verbracht hatte, ging sie wieder ins Arterium zurück, wartete auf einen freien Schlauch und schloss sich, sobald es möglich war, wieder an. Nach dieser Sitzung wanderte sie wieder genauso lange durch die Flure und ging nach ertönen des Signals in den Schlafraum.

Der Boxer und ich legten uns wieder zusammen in meinen Raum und schliefen auch bald ein.

 

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Am nächsten Morgen stand in der Tür des Raumes, der dem Boxer ursprünglich gehört hatte, ein Mann und zitterte. Er sprach uns an, aber wir ignorierten ihn. Wir wollten die Frau von gestern wiederfinden, entdeckten sie aber nirgendwo. Wir sahen uns fast jede einzelne Person an aber sie war nicht dabei. Uns fiel ebenfalls auf, dass wir keine der Personen überhaupt schon mal gesehen hatten. Wir erkannten niemanden wieder.

Nach vier weiteren Tagen fanden wir die junge Frau dann tot in der Kammer und nach zwei weiteren Tagen war auch ihre Leiche verschwunden. Den Mann aus dem Raum des Boxers sahen wir nie wieder.

In den folgenden Tagen wurden wir wegen des zunehmenden Hungers immer schwächer. Ich trank so viel ich konnte von dem muffigen Leitungswasser. Der Boxer saß fast den ganzen Tag am Eingang des Arteriums und starrte auf das Bündel Schläuche, das von der Decke hing. Wir schliefen jede Nacht zusammen in meinem Raum und jeden Morgen stand eine andere fremde Person auf dem Flur vor dem ehemaligen Raum des Boxers, die wir aber niemals ein zweites Mal zu Gesicht bekamen.

An einem Tag begann der Boxer im Arterium laut zu weinen und zu schreien. Ein Mann, der seine Sitzung gerade beendet hatte kroch an ihm vorbei. Der Boxer versuchte nach ihm zu sehen, aber jedes Mal, wenn er ihn anfasste, fing er laut an zu schreien, wie die junge Frau, die wir beobachtet hatten. Der Boxer hielt den Mann an den Handgelenken fest als er begann um sich zu schlagen. Er verpasste dem Boxer einen versehentlichen Tritt gegen die Schläfe. Der Boxer schlug ihm den Schädel ein. Ich rannte zu ihm und er sah mich mit rot unterlaufenen Augen an. Dann stand er auf und ging zu dem Schlauch, den der Mann, den er soeben tötete, zuletzt benutzt hatte. Er wollte sich das Mundstück einsetzen, aber ich hielt ihn davon ab, was nicht einfach war. Der Boxer war kräftig und rang mich einige Male zu Boden, bevor er endlich schluchzend aufgab.

In dieser Nacht weinte der Boxer ununterbrochen.

 

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Als ich am nächsten Tag wach wurde fand ich den Boxer wieder am Eingang des Arteriums. Er starrte in die Mitte des Raumes. In all der Zeit hatte ich ihn nie so traurig gesehen. Um uns herum herrschte das übliche Treiben. Auch stand wieder jemand am ehemaligen Raum des Boxers. Die Person sprach mich mehrmals an, aber ich antwortete nicht. Es war ein hübscher junger Mann mit hellblauen Augen. Er sprach auch den Boxer an, nachdem er verstanden hatte, dass wir uns kannten, aber auch der Boxer antwortete nicht. Stattdessen stand er auf und ging zu einem freien Schlauch. Ich versuchte abermals ihn davon abzuhalten und er wehrte sich auch, aber diesmal weniger verzweifelt, eher entschlossen. Er rang mich zu Boden und ich konnte nicht schnell genug aufstehen, da hatte er sich das Mundstück bereits eingesetzt. Der Mann mit den blauen Augen stand in der Tür und beobachtete uns. Erst stand der Boxer nur da und es passierte nichts. Dann drückte er mit zitternden Händen auf den blauen Knopf. Seine Augen wurden groß und er sah panisch aus. Er schnaufte laut durch die Nase und versuchte sich den Schlauch wieder aus dem Mund zu ziehen, aber mit einem Mal hörte das Schnaufen auf. Dann verdrehte der Boxer die Augen, wurde mit einem Mal sichtlich entspannter und sank auf die Knie. Ich schüttelte ihn an den Schultern, aber er reagierte nicht. Ich hörte, wie Luft durch den Schlauch strömte. Er schien jedenfalls nicht zu ersticken. Dann sah es so aus, als ob etwas durch den Schlauch abgesaugt werden würde, aber ich konnte nicht erkennen, was es war. Es schien eine Flüssigkeit zu sein, mal gelb, mal rot, dann wieder farblos. Ich versuchte den Schlauch zu entfernen, wodurch der Boxer wach wurde und mir mit wütendem Blick einen rechten Haken entgegenschickte. Er traf mich mit seiner ganzen Kraft, doch der Treffer kam bei mir als leichter Stoß an. Er stand auf und torkelte ein paar Schritte, bevor er mir einen weiteren Haken verpasste, der ebenfalls nicht seinen gewünschten Effekt erzielte. Der Boxer sah auf seine Hände als er auf dem Boden zusammensackte und mit verdrehten Augen das Bewusstsein verlor.

In dieser Nacht schlief ich allein. Ich sah den Boxer nie wieder.

 

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Auch am nächsten Tag stand wieder eine fremde Person am ehemaligen Raum des Boxers. Sie sprach mich an, aber ich verstand kein Wort. Der junge Mann mit den blauen Augen hatte vor meinem Raum auf dem Flur geschlafen und auch er sprach mich an, als ich an ihm vorbeiging. Aber auch er benutzte eine mir unbekannten Sprache. Ich ging duschen, holte mir neue Kleidung und versuchte den schrecklichen Hunger mit viel Wasser hinunter zu spülen. Ich setzte mich vor das Arterium und blieb dort eine ganze Zeit sitzen, bis mich der junge Mann mit den blauen Augen und die neue Person von heute morgen, eine Frau mittleren Alters mit dunkler Haut und Glatze, vor mich setzten und zu reden anfingen. Ich hörte Worte, aber ich verstand deren Bedeutung nicht. Dann stand ich auf und führte die beiden durch die Installation. Ich zeigte ihnen alle Räume die ich kannte und versuchte sie auf die Funktionsweise verschiedener Geräte hinzuweisen, aber da ich ihre Sprache nicht kannte, erklärte ich es so gut es ging mit Händen und Füßen. Die Notausgänge zeigte ich ihnen nicht. Ich weiß nicht, warum ich es nicht tat. In der einen Kammer lag wieder die Leiche einer mir unbekannten Person. Ihre Haare waren ausgerissen worden und die Haut war voller blauer Flecke. Die dunkelhäutige Frau begann zu weinen und der Mann mit den blauen Augen musste sich übergeben. Ich zeigte ihnen noch die Wäschekammer, dann ertönte das Signal und ich ging schlafen. Der Mann und die Frau schliefen zusammen nebenan. Diese Nacht fror ich zum ersten Mal. Ich konnte mich nicht erinnern, dass es Nachts bisher so kalt gewesen war.

 

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Kaltes Wasser lief über meinen Kopf. Ich stand nackt unter der Dusche. Ich verließ den Sanitärraum und auf dem Flur saßen die dunkelhäutige Frau und der Mann mit den blauen Augen. Sie sprachen mich an, aber ihre Stimmen waren so leise, dass ich die mir sowieso schon unbekannten Worte nicht mehr voneinander unterscheiden konnte. Ich ging zur Wäschekammer und holte mir neue Kleidung. Die beiden folgten mir den ganzen Tag, versuchten immer wieder mit mir zu sprechen, aber ich ging nicht auf sie ein. Langsam wurden sie lästig. Ich hatte nichts zu tun, also saß ich am Eingang des Arteriums auf dem Boden und starrte auf das Bündel Schläuche an der Decke, hörte auf das Jammern der Angeschlossenen und bildete mir ein eine Melodie darin erkennen zu können, die mit jeder vergehenden Stunde süßlicher wurde.

Dann wurde es hell hinter mir. Die dunkelhäutige Frau und der Mann mit den blauen Augen hatten einen der Notausgänge entdeckt und waren nach draussen gegangen. Nach etwa einer Stunde kamen sie zurück. Der Mann zog ein Bein nach und weinte kläglich. Die Frau stützte ihn und versuchte ihn in die Sanitärräume zu tragen. Ich folgte ihnen. Dort fand ich sie nackt zusammen unter der Dusche. Ein Fuß des Mannes war entsetzlich verbrannt und blutete an mehreren Stellen. Die Frau versuchte aus einem zerrissenen Shirt einen Verband zu machen, aber der Mann konnte kaum still halten und so misslang es ihr immer wieder. Nachdem sie fertig waren brachte sie ihn in den Raum neben meinem und legte ihn auf das Bett. Er schrie den ganzen Tag und sie saß den ganzen Tag weinend auf der Toilette. Als am Abend das Signal ertönte und alle zu ihren Betten schlichen, lag der Mann tot in der Kammer. Sein verbrannter Fuß war entfernt worden. Ich zog mich noch einmal um und ging dann schlafen. In der Nacht hörte ich die Frau weinen. Irgendwann kam sie rüber und legte sich zu mir. Ich erwürgte sie im Schlaf und ging dann in den anderen Raum und legte mich dort hin.

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Nach drei weiteren Tagen entschloss ich mich dazu, die Schläuche zu probieren. Ich war morgens als erster wach und ausser den Gespenstern war noch niemand angeschlossen. Ich zog einen der Schläuche von der Decke und inspizierte das Mundstück. Es war feucht und klebrig. Ich setzte es nach kurzem Zögern ein und drückte auf den leuchtenden blauen Knopf. Ich spürte, wie der Draht in meinem Rachen meinen Gaumen nach oben drückte und der Schlauch mich intubierte. Erschrocken versuchte ich ihn wieder rauszuziehen aber dann begann mein Zahnfleisch zu kribbeln und eine wohlige Wärme durchfloss meinen ganzen Körper. Ich wurde etwas ruhiger und hörte auf an dem Gerät zu zerren. Mein Hunger verschwand und auf meiner Zunge breitete sich ein unvergleichlich köstlicher Geschmack aus, den ich mit nichts in der Welt in Verbindung bringen konnte. Das Licht im Raum wurde angenehm warm. Als mir klar wurde, dass mir über das Mundstück Drogen verabreicht wurden, sank ich zu Boden und fing an, eine mir unbekannte Melodie zu summen. Ich konnte nicht damit aufhören. Mein ganzer Körper fühlte sich auf einmal unglaublich gut an. Das ständige Dröhnen im Hintergrund der Installation verschwamm und wurde zum Rauschen des Meeres. Es roch nach Gebäck und der Boden wurde weich wie eine teure Matratze.

An diesem Tag machte ich eine Sitzung. Den restlichen Tag saß ich auf dem Flur oder der Toilette. Ich fühlte mich schwach, aber nicht mehr hungrig. Mein Kopf war völlig frei. Am Abend wechselte ich meine Wäsche und ging zu den anderen in den Schlafsaal. Ich dachte, ich hätte den Boxer in der Menge gesehen, aber es schien mir nicht wichtig genug um dem nachzugehen.

In den zwei darauf folgenden Tagen machte ich täglich eine Sitzung und fühlte mich zunehmend besser. Ich wurde nicht schwächer und hatte keinen Hunger oder Durst. An den drei nächsten Tagen wurde ich von mir unbekannten Personen verfolgt, die immer wieder versuchten mit mir zu sprechen, aber es kam kein Ton aus ihren Mündern. Jeden Tag lag eine andere tote Person in der Kammer. Die Wäsche wurde nie leer. Alles blieb wie es ist. Die Personen, die mich verfolgt hatten verschwanden zunächst, bis ich den einen bis auf die Knochen verbrannt am Notausgang liegen sah, den anderen tot in seinem Bett vorfand und der letzte schließlich in der Masse der Angeschlossenen unterging.

 

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Ich wusste, dass ich noch nicht lange angeschlossen gewesen sein konnte, als ich wach wurde. Das Gefühl danach war anders. Ich fühlte mich unglaublich erschöpft und mein Kopf tat mir weh. Ich öffnete die Augen und fand den Schlauch abgeschnitten auf dem Boden liegen, das Mundstück hatte ich noch angelegt. Damit im Mund und mit dem losen Ende auf dem Boden schleifend schleppte ich mich in den Schlafraum. Ich setzte mich auf ein leeres Bett. Dann stand plötzlich eine Person vor mir und schüttelte mich an den Schultern. Ich versuchte sie abzuwehren, aber anscheinend kam von der durch mich aufgewendeten Kraft nicht viel bei meinem Gegenüber an. Ich tippte auf den Schlauch und hatte Mühe sitzen zu bleiben, so schwach war ich. Die Person griff an den Schlauch, drückte auf den blauen Knopf und ich spürte, wie sich der Tubus aus meinem Hals zurückzog. Dann riss mir die Person den Schlauch aus dem Gesicht, wobei ich zwei Zähne verlor. Mein Blut tropfte aus meinem Mund in meine Hand und plötzlich konnte ich die Person hören, auch wenn ich ihre Worte nicht verstand. Sie zerrte mich unter die Dusche und nach einem kalten Schauer war ich endlich vollständig wach. Die Person kleidete mich neu ein und brachte mich zu der großen grauen Stahltür. Sie war offen.

 

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Ich brauchte wohl ziemlich lange um zu verstehen, was die offene Stahltür bedeutete. Die einzige Tür, die nicht nach draussen in die unsägliche Hitze führte und hinter der die Quelle des ständigen Dröhnens lag, stand offen vor uns. Auch wenn mich die Person, die mich hierhergebracht hatte, und die ich mittlerweile als eine Frau Mitte dreißig erkennen konnte, dazu drängte mit ihr hindurchzugehen, empfand ich keine Notwendigkeit für die weitere Erforschung der Installation. Ich hatte hier alles was ich brauchte und ich sah keinen Grund dafür wegzugehen. Aber ihrem Drängen konnte ich mich nicht widersetzen. Sie war in einem viel besseren körperlichen Zustand als ich und dem war ich nicht gewachsen. Also zog sie mich mit sich und wir übertraten gemeinsam die Schwelle. Hinter der Tür war die Luft noch stickiger, aber nicht mehr so feucht. Da lag ein schmaler Gang, der rot beleuchtet war. Nach einigen Metern kam eine Treppe nach unten die wir hinunterstiegen. Dann erreichten wir eine weitere Stahltür, die von innen geöffnet werden konnte. Ich wollte gerade davon abraten sie zu öffnen, da stand die Frau auch schon auf der anderen Seite und blickte sich fassungslos um.

Hinter der Tür fanden wir eine weitere Installation, die ganz ähnlich aufgebaut war, wie die, aus der wir kamen. Auch hier herrschte das gleiche Treiben. Es gab die gleiche Ausstattung, bis auf die fehlenden Duschen, aber es war deutlich wärmer und die Wände waren gelb statt grün gestrichen. Es gab auch deutlich mehr Menschen hier, als oben. Sie waren allerdings auch in deutlich schlechterer Verfassung. Ihre Kleidung, wenn sie denn welche anhatten, war größtenteils zerrissen und sie waren noch unterernährter als oben. Sie schliefen überall und zwischen ihnen lagen die Körper der Verstorbenen. Wir sahen uns um und entdeckten auch hier ein Arterium. Einer groben Schätzung zu Folge gab es hier genauso viele Schläuche wie oben, aber deutlich mehr Menschen, weswegen auch die Schlange vor dem Arterium deutlich länger war. Wir fanden ausserdem einen zusätzlichen Raum. Er war ebenfalls voll mit Menschen, die große braune Kisten, die mit Folie umwickelt waren von einer Seite des Raumes, auf die andere schoben. Dort verschwanden die Kisten in einer Nische in der Wand unter lautem Getöse.

Dort wo oben der Notausgang gewesen war, gab es hier eine weitere Stahltür. Ich weiß nicht wie, aber die Frau war in der Lage auch diese zu öffnen. Auch dort fanden wir wieder einen rot erleuchteten Gang mit einer dahinterliegenden Treppe. Wir gingen hinuntern zu einer weiteren Stahltür, die wir öffneten. Auch dort fanden wir wieder eine ähnliche Installation wie zuvor. Diesmal waren die Wände rot gestrichen, der Sanitärraum fehlte ganz und im Arterium hingen nur eine Hand voll Schläuche von der Decke. Es war unglaublich voll. Man konnte sich in den Gängen kaum bewegen. Der Gestank war unerträglich. Wir stolperten immer wieder über tote Körper und der Lärm war ohrenbetäubend. Die Menschen waren allesamt nackt und wir sahen immer wieder, wie sich einige von ihnen auf den Boden unter ihnen erleichterten. Sie kletterten übereinander um ins Arterium zu kommen und manche wurden dabei niedergetrampelt oder töten sich gegenseitig bei einem Kampf um den nächsten freien Schlauch. Wir sahen an der Stelle nach, an der ein Stockwerk über uns der Raum mit den Kisten gewesen war. Dort fanden wir eine Halle, die so groß war, dass wir die gegenüberliegenden Wände nur erahnen konnten. Überall auf dem Boden saßen Menschen, nackt, schmutzig und bis auf die Knochen abgemagert. Sie gaben keinen Ton von sich, aber hier war es trotzdem so laut, dass man das Gefühl hatte deswegen sogar schlechter sehen zu können. Die Luft war verraucht. Anscheinend brannte es irgendwo, aber niemand nahm davon Notiz. Wir brauchten einige Minuten um in all dem Chaos erkennen zu können, was hier vor sich ging. Die Menschen saßen auf dem Boden und nähten weiße Shirts.

 

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